Japan: Von alten Wundern und spirituellen Höhen

Nara und Kōya-san: Japans Seele entdecken mit einem Rückfahrtticket in die Moderne.

Ein Morgen in Nara: Abschied von der alten Hauptstadt

Ein neuer Morgen bricht in Nara an, und ich starte meine spannende Erkundung einer mir bisher unbekannten Region Japans. 

Mein Reiseführer verspricht „das spirituelle Japan“ und eine seiner schönsten UNESCO-Welterbestätten: Kongōbu-ji, den Haupttempel des Shingon-Buddhismus, den Kōbō Daishi vor rund 1200 Jahren aus China brachte. 

All das und noch mehr erwarte ich bei meinem Besuch in Kōya-san. Diese Zeilen in dem Reiseführer fesseln mich sofort, und ich bin gespannt, mehr darüber zu erfahren. Glücklicherweise habe ich für die nächsten beiden Tage einen Mietwagen reserviert. 

Doch bevor die Fahrt losgeht, genieße ich die letzten Momente in meinem schlichten Zimmer im traditionellen Nara Ryokan Hotel in der Altstadt, deren Wurzeln bis ins 8. Jahrhundert reichen.

Mein kurzer Aufenthalt in Nara, Japans erster ständiger Hauptstadt, war prägend für mich. Ihre monumentale Bedeutung als historisches und spirituelles Zentrum mit den vielen UNESCO-Weltkulturerbestätten wird mir im Gedächtnis bleiben, ebenso wie die vielen Superlative:

Die Haupthalle des Tōdai-ji-Tempels, der größte Holzbau der Welt, beherbergt den fast 15 Meter hohen Großen Buddha von Nara aus Bronze. Die Tausenden von Laternen im Kasuga Taisha-Schrein sind genauso beeindruckend, und die rund 2.000 Steinlaternen entlang des Waldweges dorthin sind für mich unvergesslich. 

Bemerkenswert sind auch die über 1.300 frei lebenden Hirsche im riesigen Nara-Park, der die Größe von etwa 1.100 Fußballfeldern hat. Diese Tiere, als Boten der Götter geltend, werden seit Jahrhunderten geschützt und verbringen hier ein unbeschwertes Leben.

Nach meinem langen Ausflug zu Fuß in die Geschichte Japans konnte ich mich abends in meiner einfachen Unterkunft wunderbar entspannen. Die Herberge ist ein Ort, wie man sich ein ursprüngliches, traditionelles japanisches Hotel vorstellt: Reismattenboden, ein klar strukturierter, möbelloser Raum, dazu eine separate Dusche und eine Toilette mit erwärmter WC-Brille, die sich automatisch hebt – ein Standard in japanischen Haushalten.

Abends genoss ich das Privileg, das original japanische Onsen-Bad in dieser Unterkunft ganz für mich allein zu haben. Dem Ritual folgend reinigte ich mich zuerst gründlich, indem ich Wasser aus einem Holzbottich über mich goss, bevor ich in den großen Pool mit 42,7 °C stieg. 

Das vollständige Eintauchen in das heiße Wasser dauerte bei mir allerdings etwas, da sich meine Haut und die anderen Organe erst an den Wärmeschock gewöhnen mussten. Doch nach 30 Minuten war ich völlig entspannt, wie schon lange nicht mehr.

Aufbruch nach Kōya-san: Einblicke in die japanische Gesellschaft

Heute, an diesem wunderbaren, sommerlich warmen Tag, reihe ich mich auf meinem Weg zum Bahnhof in den Strom der Einheimischen ein, die zu ihrer Arbeit pilgern. 

Die männlichen Angestellten tragen ihren Einheitslook aus einer dunklen Anzugshose und einem weißem Hemd, dessen Ärmel im Sommer etikettegerecht hochgekrempelt werden dürfen. Mehr ist offiziell in der Gesellschaft nicht erlaubt. 

Berufstätige Frauen haben es mit einem zumeist engen Kostüm und hohen Schuhen bei der Kleiderordnung etwas stressiger.

Doch bei den japanischen Frauen geht der Trend sowieso eindeutig zur Hausfrau. Einmal verheiratet, kümmern sie sich um ihre Kleinkinder, verwalten das Familiengeld und kontrollieren die Ausgaben ihrer Ehemänner. Da sie rechtlich und finanziell durch ihren arbeitenden Gatten, auch im Fall einer Scheidung, auf Lebzeiten abgesichert sind, ist dieses Familienmodell bei der jüngeren Generation in Japan sehr beliebt. Es überrascht mich daher nicht, viele junge Frauen, teils mit Babys, an diesem Morgen bei einem Kaffee entspannt mit den Freundinnen plaudern zu sehen, bevor sie ihre alltäglichen Routine-Erledigungen beginnen.

Mit dem Zug fahre ich zur nächsten Haltestelle Yamato Saidaiji, einem Ort im Großgebiet von Nara, den ich in 20 Minuten erreiche. Dort werde ich meinen Mietwagen abholen. Diese Station habe ich bewusst gewählt, da sie ein Verkehrsknotenpunkt ist und mir die spätere Weiterreise mit dem Zug nach Osaka erleichtern wird.

Ein Mietwagen für die Fahrt zur Spiritualität

Im Bahnhof Yamato Saidaiji habe ich noch etwas Zeit, bis die Abholung um 10 Uhr stattfindet. Bei einem Kaffee im Bahnhofscafé beobachte ich die äußerst pflichtbewussten und freundlichen Angestellten; selbst die Putzfrau wischt die Abstellregale für das benutzte Geschirr akribisch zweimal nach. Ich nutze die Zeit, um Mails zu checken und mich auf die Fahrzeugübergabe vorzubereiten.

Die Vermietstation ist nicht weit vom Bahnhof entfernt. Der junge, etwas nervöse japanische Angestellte, der kaum Englisch spricht, hat bereits alles vorbereitet. Es wird wohl nicht täglich ein Auto an einen Ausländer vermietet. Meine Fragen zu seiner Lieblingsautomarke lockern die Atmosphäre etwas auf. Er erklärt mir die wichtigen Details für Ausländer, um in Japan ein Auto zu mieten und zu fahren. 

Insbesondere die beglaubigte Übersetzung des Führerscheins zu haben ist unerlässlich. Diese hatte ich vier Wochen im Voraus online beantragt, was die Übergabe reibungslos macht.

Ich unterschreibe blind ein Paket Papiere mit japanischen Schriftzeichen. Gemeinsam gehen wir zum Auto, einem zwei Jahre alten Daihatsu, von dessen fast nicht sichtbaren Kratzern ich trotzdem Fotos mache. Er erklärt mir die Funktionen des Autos und stellt das Navigationssystem auf Englisch ein.

Ein Schmunzeln huscht mir in diesem Augenblick über mein Gesicht, als ich an meine frühere etwa 200 Kilometer lange Fahrt zum Mount Fuji ohne Navi denke, die ich an einem freien Wochenende während einer Dienstreise von Toyota City aus unternommen habe. Damals war ein Nachfragen bei zumeist jungen Japanern, die etwas Englisch sprechen konnten, unerlässlich, um den Zielort zu erreichen. Samstag Hinfahrt, Sonntag Aufstieg zum Heiligen Berg und danach Rückfahrt wieder in das Hotel in Toyota City – das waren unvergessliche Erinnerungen.

Nach der kurzen Eingewöhnung an den Linksverkehr geht es sofort auf den Expressway. Am besten passe ich mich dem Verkehr an, indem ich langsamer fahre und mich an ein vorausfahrendes Fahrzeug halte. Vor mir fährt zufällig ein grauer Mercedes-Benz SUV mit japanischem Kennzeichen, der dieselbe Strecke nach Kōya-san nimmt. Das importierte Fahrzeug ist eine perfekte Orientierung für mich, weil es nicht zu oft im japanischen Straßenverkehr vorkommt. 

Alles läuft reibungslos. Einzig die Ampeln, die oft 50 Meter nach der Kreuzung stehen und manchmal rote Lichter mit grünen Rechtsabbiegerpfeilen kombinieren, sind etwas gewöhnungsbedürftig.

Grüne Landschaften mit grauem Beton

Ich bin beeindruckt, wie dicht Japan in dieser Region der Präfektur Kansai besiedelt ist. Jeder freie Fleck scheint von der grünen Bergwelt umgeben zu sein. Angesichts von 80 % Gebirgsfläche in Japan prägen in ländlichen Gebieten perfekt gepflegte, kleine Reisfelder und andere landwirtschaftlich genutzte Anbauflächen das Bild.

Große Straßen durchziehen das Land. An Baustellen für neue Expressways sehe ich elefantendicke, teils schon angegraute Betonpfeiler, neben denen gerade neue gegossen werden. Jeder Arbeiter, vom Einweiser bis zum Bauleiter, arbeitet engagiert im Team. Das ist ein Garant für den Erfolg der japanischen Wirtschaft.

Der kleine Daihatsu besticht durch seine Funktionalität und Effizienz; kein Schalter ist überflüssig, alles ist zweckmäßig. Solche Fahrzeuge sind in Japan weit verbreitet, getreu dem Motto: In der Kleinheit liegt die Ästhetik und die Funktionalität. Das ist in Japan ein in vielen Bereichen des Lebens anzutreffendes Konzept, nachdem man sich mit Größe und Macht in den Kriegen fast komplett durch den Atombombenabwurf selbst vernichtet hatte. 

Okay, das Design der Fahrzeuge im Miniaturformat ist ungewöhnlich, schuhkartonartig, doch das ist beim Fahren nebensächlich.

Die Verkehrsregeln ähneln denen in Deutschland, doch die oberste Regel ist 0,0 % Alkohol am Steuer. Ich erinnere mich an Berichte von Toyota-Kollegen, die mir erzählten, dass bei Verstößen den Betreffenden sofort gekündigt und ihre Namen mit einem Foto in der Zeitung veröffentlicht werden.

Die letzten 20 Kilometer vom Expressway nach Kōya-san gehen steil in die Berge. Der kleine Daihatsu hat Mühe mit dem Anstieg, aber er schraubt sich langsam die Serpentinen hinauf. Die Straßen sind selbst in dieser schwer zugänglichen Bergwelt perfekt ausgebaut und gut gesichert, alles wirkt äußerst professionell.

Mir gefällt es, mit meiner kleinen „Schuhschachtel“ durch die Landschaft zu fahren. Unwillkürlich denke ich an meine tausende Kilometer langen Fahrten durch chinesische Provinzen und die vielen Blitzer dort. Mein japanisches Navi erinnert mich freundlich, nach zwei Stunden Fahrt eine Pause zu machen, doch ich fahre weiter die Serpentinen hinauf nach Kōya-san.

Unterwegs überhole ich voll ausgestattete Radfahrer, die sich in ihren langen Hosen und Shirts vor der Sonne schützen. Es ist beeindruckend, wie sich diese Sportler, ob mit oder ohne Behinderung, die Berge hochkämpfen – wie bei meinen eigenen Radtouren in den Alpen. Glücklicherweise spendet der dichte Wald ihnen ausreichend Schatten. 

Im oberen Bereich werden die Kurven immer enger. Ich muss mich extrem konzentrieren, um auf meiner Spur zu bleiben und den Gegenverkehr in den engen Kurven zu beachten.

Das spirituelle Herz Japans: Ankunft in Kōya-san

Ich bin angekommen in Kōya-san, 820 Meter über dem Meeresspiegel – dem spirituellen Herzen Japans. Der Name bedeutet wörtlich „Berg Kōya“ oder „Hochebene des Berges“, doch er steht für eine ganze Bergregion in der Präfektur Wakayama südlich von Osaka.

In dieser ruhigen Bergwelt, umgeben von acht Gipfeln, die wie eine Lotusblume aussehen, ist es spürbar kühler als in den Städten. Auf dieser von Bergen umschlossenen Hochebene hat sich über Jahrhunderte eine bedeutende buddhistische Tempelstadt entwickelt – eine lebendige Klosterstadt und das spirituelle Zentrum des heutigen Japan. 

Die Stadt verehrt ihren Gründer aus dem 9. Jahrhundert, den Mönch Kūkai (Kōbō Daishi), der in seinem Waldgrab noch immer in ewiger Meditation ruhen soll. Von den 3.000 Einwohnern Kōya-sans sind 800 Mönche und Novizen der Schule des esoterischen Shingon-Buddhismus, dem etwa 10 Millionen Menschen in Japan folgen.

Spirituelles Wandern in Kōya-san: Eine Reise durch Zeit und Natur

Eine fantastische, 18 Kilometer lange Wanderung in der Bergwelt von Kōya-san erwartet mich am Nachmittag. Mein Weg führt mich vom Kōya-san Visitor Center im Zentrum des Ortes auf dem Women Pilgrimage Course nach Okunoin-Mae, weiter zu den Okunoin Gräbern und schließlich zurück nach Kōya-san.

Dieser Pilgerweg heißt so, weil es Frauen in Japan noch bis Anfang des letzten Jahrhunderts aus religiösen Gründen verboten war, viele der heiligen Stätten, wie den Berg Kōyasan, zu betreten. Daher nutzten Pilgerinnen die Strecke als eine Art „Umgehungslösung“, um dem heiligen Ort nahezukommen und zu beten. Geblieben ist der Name der Route, die mich in einen dichten Wald hineinführt. 

Die vielen kleinen Erkennungszeichen, wie die roten Bänder an den Steinen am Boden oder in den Zweigen der Bäume, stellen sicher, dass ich mich auch ohne Kompass nicht verlaufen kann. Diese Art der Wegmarkierung erinnert mich an meine geführte Wanderung an der Großen Mauer in China, wo ein vorausgehender Führer rote Bänder an Ästen befestigte und ein weiterer, der Gruppe nachlaufender, sie wieder einsammelte. Diese klare Orientierung gibt mir auch hier, in diesem „göttlichen Gebiet der Pilger“, ein fast blindes Vertrauen. 

Ich muss nur aufpassen, dass ich mir keinen Fuß verstauche, da ich allein auf diesem abgelegenen Pfad unterwegs bin und nur leichte Sportschuhe trage. Eine schmerzhafte Erinnerung an eine frühere Wanderung an der Küste von Hongkong, wo ich in ein Loch rannte und mir den Fuß brach, mahnt mich noch immer zur Vorsicht.

Ab und zu höre ich beim Wandern die inspirierende Musik des japanischen Jazz-Musikers Hiromi Uehara auf meinem Handy. Das Musikhören bei sportlichen Aktivitäten in der Natur ist eine Marotte von mir, die ich von chinesischen Wanderern abgeschaut habe, die damit dem Gefühl der Einsamkeit bei Solotouren entgehen wollen. 

Damit habe ich kein Problem. Vielmehr werde ich von diesen mir bislang ungewohnten Harmonien des japanischen Musikers getragen und schreie dann mein Glück in den selten vorkommenden Lichtungen des Waldes inbrünstig heraus, wo ich die endlose grüne Berglandschaft vor mir erblicke.

Doch meistens lausche ich aufmerksam auf dem Pfad dem Zwitschern der Vögel, das mir so gar nicht vertraut vorkommt im Vergleich zu den Tönen in den heimischen Gefilden.

Der Naturpfad schlängelt sich auf und ab durch den uralten Mischwald mit den vielen Zypressen und Zedern. Es ist ein gesunder Wald, obwohl ich ab und zu auch umgestürzte Bäume im Gebüsch liegen sehe. Die Bäume sind zumindest nicht von Insekten befallen, wie in Deutschland in den Gebieten, wo der Borkenkäfer wütet. 

Zypressen und Zedern gelten in Japan als heilige Bäume, die als Wohnorte von Göttern verehrt werden und die Reinheit sowie Spiritualität symbolisieren. Sie sind ein Ausdruck für Langlebigkeit, Wohlstand, Beständigkeit und eine tiefe Wertschätzung der Japaner für die Natur. 

Ihr extrem witterungsbeständiges Holz ist das bevorzugte Material für den Bau und die regelmäßige Erneuerung von Shinto-Schreinen und buddhistischen Tempeln, wie für die Torii-Tore des berühmten Fushimi Inari-Taisha Schreins, die ich erst vor zwei Tagen bewundern durfte. 

Aber es gibt in diesem Märchenwald noch viele andere Nadelbäume, die ich nicht kenne. Oft sehen sie für mich aus wie kunstvoll designte Objekte wie jene, die in deutschen Baumschulen auf ihre Abnehmer warten.

Im Wald der Seelen: Okunoin

Nach einer stundenlangen, genussvollen Wanderung komme ich schließlich in dem Wald der Seelen an. So wird der riesige Friedhof Okunoin genannt, der auch ein intensives Naturerlebnis ist.

Mir wird beim Betreten des riesigen Geländes etwas anders zumute, da ich hier zur späten Stunde der einzige Besucher bin. Mir scheint, dass ich in meiner Nähe leise Stimmen höre. Doch sicherlich werden das Durchsagen sein, die irgendwo im Hintergrund automatisch vom Recorder ablaufen.

Ein zwei Kilometer langer Weg auf der Begräbnisstätte führt mich, vorbei an rund 200.000 Grabsteinen von Japans größtem Friedhof, im Dämmerlicht durch einen uralten Wald zu dem Mausoleum von Kōbō Daishi, dem Gründer der Shingon-Glaubensgemeinschaft. 

Auf dem Weg dorthin überquere ich drei Brücken, so wie es der große Meister in seinem Vermächtnis vorgesehen hatte. Mit der ersten gelange ich, nach seinen Vorstellungen, in das Reich der Toten. Die zweite Brücke, die ich überquere, steht für die Reinigung, und die dritte soll mich in das Reich der Erleuchtung bringen.

Natürlich ist das sinnbildlich, geistlich gemeint, denn mein Körper leuchtet in dem Moment der Überschreitung des letzten Steges nicht wie eine Taschenlampe, die ich jetzt durchaus gebrauchen könnte.

Beeindruckt bin ich von den gewaltigen Bäumen, die bis zu 900 Jahre alt sind und eine Höhe von über 50 Metern erreichen können. Wenn einer ihrer Gefährten gefällt werden muss, was nach heftigen Taifunen vorkommen soll, entscheidet ein eigenes Gremium der Mönche darüber und begleitet die Holzfällerarbeiten mit dem gemurmelten, zur Erleuchtung führenden Mantra „Namu Daishi Henjō Kongō“, das drei- oder siebenmal rezitiert wird. 

In meinem Reiseführer lese ich zu meinem Erstaunen auch, dass Pilger zu diesem Ort oft die Überreste ihrer Verstorbenen mitbringen, manchmal ein Kehlkopf oder andere kleinere Körperteile, die gegen Bezahlung im Knochenhaus gelagert werden, um später würdevoll zu Grabe getragen zu werden.

Auf meinem Weg zurück zum Ausgang meiner Besichtigung komme ich an vielen Gedenksteinen japanischer Firmen vorbei. Ich sehe das große Monument des Autoherstellers Nissan, das der Konzern für seine verstorbenen Arbeiter hat errichten lassen. Ein sehr skurriler Gedenkstein ist der eines Herstellers von Insektenvernichtungsmitteln, der ein Monument für die vernichteten Termiten und Ameisen errichten ließ. So wird an alle Lebewesen im Sinne des Buddhismus an diesem Ort der letzten Ruhe gedacht.

Zurück in Kōya-san verbringe ich den Abend in meiner Unterkunft, im Guest House Hachi Hachi. Diese einfache und charmante Herberge widerspiegelt für mich authentisch das traditionelle japanische Wohnerlebnis in einer garantiert besinnlichen Atmosphäre, die zum Geist des heiligen Ortes Kōya-san hervorragend passt. 

Alle Zimmer sind mit den charakteristischen Matten aus gewebtem Reisstroh, den sogenannten Tatami, ausgelegt, die den Räumen eine warme, natürliche und beruhigende Atmosphäre verleihen.

Nori, der Eigentümer, berichtet mir, dass er seine vorherige Herberge in Kyoto verkauft hat und mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn vor sechs Jahren in die ländliche Abgeschiedenheit gezogen ist, damit sein Kind sich hier freier und natürlicher entwickeln kann. 

Er ist mit seinen von mir geschätzten 40 Jahren ein Vertreter des Teils seiner Generation, die bewusst nach den einfachen traditionellen Verhaltensweisen und Gepflogenheiten leben. 

Ich habe während meiner Reisen durch die Welt selten so eine einladende Unterkunft erlebt, wo der Gast nach dem ersten Betreten des Hauses sich sofort wohl und gut aufgenommen fühlt. Seine außergewöhnlich positiven Bewertungen bei Booking.com sind nur ein Ausdruck seiner Gastfreundschaft.

Die großen Tempel von Garan

Am nächsten Morgen gibt mir Nori noch einige gute Tipps, was ich mir in Kōya-san unbedingt anschauen soll. Doch eigentlich bedarf es keiner Hinweise, denn die großen Sehenswürdigkeiten liegen alle fußläufig an der Hauptstraße des Ortes. Die Hauptattraktion ist unbestritten der Komplex der großen Tempel.

Wie bei den meisten der uralten Sehenswürdigkeiten in Japan sind die Ursprünge dieser sakralen Bauwerke mit einer Geschichte verbunden, die in Kōya-san mit einem jungen Buddhisten beginnt, der sich nach Xi’an in China begibt und dort in den esoterischen Buddhismus eingeweiht wird. Nach seiner Rückkehr gewann er am kaiserlichem Hof Japans großen Einfluss, sodass ihm gestattet wurde, ein Lehrzentrum genau hier in den Bergen, beginnend im Jahr 816, weit weg von allem Trubel zu errichten.

Auch wenn die Gebäude des ursprünglichen Zentrums mit dem Namen Garan, in dem ich stehe, über die Jahrhunderte immer wieder neu aufgebaut wurden, spüre ich den geistlichen Spirit von Kōya-san, auch wenn ich kein Buddhist bin. 

Ich sehe die leuchtend rote Große Pagode vor mir, die 50 Meter hoch und einfach beeindruckend ist. In den Beschreibungen hierzu steht, dass sie das Zentrum eines großen Lotusblumen-Mandalas ist, das von den acht Bergen um die Pagode herum gebildet wird. Der Gründer soll eigenhändig die Säulen des Originals bemalt haben.

Ich gehe ein Stück weiter und halte Ausschau nach der Großen Porträthalle, ein eher schlichtes Holzgebäude, das ich jetzt erkenne. Darin wird ein Gemälde mit der einzigen vorhandenen Darstellung des Gründers Kōbō Daishi aufbewahrt. 

Das Besondere ist, dass dieses Bild nur einmal im Jahr, am 21. März, der Öffentlichkeit gezeigt wird. Das ist der Tag, an dem Kōbō Daishi im Jahr 835 in die „ewige Meditation“ eingetreten sein soll. Aus buddhistischer Sicht ist dies eine besondere Form der Meditation, in der er nicht gestorben ist, sondern sich in einem dauerhaften spirituellen Zustand befindet. 

Die Mönche in Kōya-san kümmern sich bis heute um sein Mausoleum, das im Friedhof Okunoin steht, den ich gestern Abend besucht habe. Seine geistlichen Brüder bringen ihm täglich Mahlzeiten, damit es ihm in seiner Trance an nichts mangelt. Es ist also kein Zustand, der an einem bestimmten Datum oder zu einer bestimmten Uhrzeit endet, sondern ein dauerhafter.

Noch ein Stück weiter westlich erblicke ich das imposante, riesige Haupttor, das das Ende der alten Pilgerwege nach Kōya-san darstellt. Ich stelle mir vor, wie die Pilger nach einer langen Reise hier ankamen und durch dieses Tor schritten – ein wirklich bedeutsamer Anblick, den ich gerade erlebe und den ich gestern auf einem Teilstück des Weges selbst mit faszinierenden Erlebnissen nachempfinden durfte.

Die Kunst des Kongōbu-ji: Sitz der Shingon-Schule

Dienen die Garan-Tempel hauptsächlich zeremoniellen Charakter, so ist der Kongōbu-ji der Haupttempel der buddhistischen Shingon-Schule. Er fungiert als Verwaltungszentrum und als Wohnsitz des Abtes von Kōya-san. 

Der Weg dorthin ist einfach zu finden, denn beide Tempel liegen nur einen kurzen Spaziergang in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander entfernt.

In den stillen, mit Tatamis ausgelegten Hallen bewundere ich die prächtigen Schiebetüren aus Reispapier und feinen Hölzern, die mit buddhistischen Gottheiten, heiligen Landschaften, mächtigen Tieren und vielen Szenen aus mystischen Erzählungen bemalt sind.

Viele stammen von Kunstschaffenden aus dem 17. Jahrhundert. Manche von ihnen sind älter als die Räume selbst, da sie von Mönchen vor Bränden gerettet wurden, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder die Gebäude völlig bis zu den Grundmauern niedergebrannt haben. Doch in gleicher Weise wurden diese heiligen Stätten anschließend wieder aufgebaut, vielfach prunkvoller als sie vorher waren. 

Die Zeit vergeht an diesem Vormittag für mich wie im Fluge. Ich liebe es, nur mit Socken und ohne Schuhe auf den besonderen Holzpaneelen des Kongōbu-ji Tempels umherzulaufen.

Den Mönchen begegne ich bei meinem Spaziergang durch die Tempelanlagen nur sehr selten, obwohl in der Schule ungefähr 700 Kleriker zurzeit hier studieren. Sie haben keine Zeit zum Flanieren, denn wer ein richtiger Mönch werden will, dem stehen Prüfungen und harte Meditationen bevor. Er hat als Übung der Konzentration 1.000.000 Mantras zu rezitieren, jeden Tag 20.000, und das ganze 50 Tage lang. Ich denke, das würde meinen Zentralrechner im Gehirn vor große Herausforderungen stellen, wäre ich in ihrer Lage.

In Kōya-san gibt es 117 Tempel, von denen etwa die Hälfte Unterkünfte für Touristen und andere, am Buddhismus Interessierte anbieten. In vielen Tempeln kann man dann an der Morgenzeremonie beiwohnen, die in der Regel zwischen 30 und 60 Minuten andauert. 

Für die Mönche ist das ein lukratives Nebengeschäft, da für einen Aufenthalt in einer spartanisch eingerichteten Mönchszelle bis zu 600 EUR pro Nacht bezahlt werden müssen. Die veganen Gerichte, die drei Mal am Tag gemeinsam mit den Mönchen eingenommen werden, sind dann allerdings im Preis schon inkludiert.

Für mich heißt es nach meiner Zeit in Kōya-san Abschied zu nehmen von einem besonderen Ort mit einer sagenhaften Natur und des uralten Glaubens, dort, wo das spirituelle Herz Japans schlägt.

Rückfahrt nach Osaka und Abschied von Kōya-san

Kaum habe ich die heiligen Höhen von Kōya-san verlassen, tauche ich mit dem kleinen Daihatsu wieder ein in die mir nun schon bekannte, atemberaubende grüne Bergwelt mit der schmalen Straße, die sich durch dichte Wälder schlängelt.

Jeder Blick aus dem Autofenster ist wie ein Postkartenmotiv – saftiges Grün, so weit das Auge reicht. Es ist ein friedlicher Kontrast zur geschäftigen Stadt, die mich in Osaka schon erwartet.

Je näher ich Osaka komme, desto urbaner wird die Landschaft. Die Berge weichen allmählich Feldern und später den ersten Vorstädten. Der Verkehr nimmt zu, und die kleinen Straßen werden wieder zu breiteren Schnellstraßen. Das Navigieren durch Osaka ist eine ganz andere Erfahrung als die entspannte Bergfahrt, die meine ganze Aufmerksamkeit erfordert, aber mein GPS führt mich zuverlässig zum Zielort.

Die Rückgabe des Mietwagens in Osaka verläuft reibungslos und unkompliziert. Wieder treffe ich auf den jungen Angestellten, der mir zu Beginn der kleinen Reise das Fahrzeug übergeben hat. Seinem Naturell entsprechend begrüßt er mich auf seine ihn mögliche Art und Weise sehr freudig. Er wird innerlich dankbar sein, dass es mit der Vermietung des Autos an einen Ausländer keine Probleme gab, wofür er sich persönlich wohl zu verantworten hätte. 

So ist es für uns beide ein perfekter Abschluss meiner Reise, die mich von der spirituellen Ruhe Kōya-sans zurück in das lebhafte Herz Osakas geführt hat.

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