Goldene Tage in Yunnan

Die Textpassagen wurden als Zitate dem Buch „Go West. Unterwegs im anderen China“ entnommen. Die Fotos sind Smartphone Momentaufnahmen bzw. iStock (i) und Pexels (P) Bilder (siehe ID’s bei den Bildunterschriften).

Yunnan ist auch für die Chinesen etwas Besonderes, ein touristisches Wunderland, das sich dort erstreckt, wo die tibetischen Ostprovinzen in das chinesische Kernland übergehen. Die »Provinz der Berge und Wolken« im Südwesten des Riesenreichs weist die größte kulturelle und geografische Vielfalt im ganzen Land auf. Yunnan hat rund dreiundvierzig Millionen Einwohner, ungefähr so viele wie Spanien, ist jedoch rund ein Fünftel kleiner. Von den sechsundfünfzig offiziell in China anerkannten Ethnien leben sechsundzwanzig in dieser Provinz. Trotz unterschiedlicher Kulturen, Sitten und Gebräuche leben sie harmonisch miteinander. Reisende schätzen Yunnan als Provinz voll anmutiger Schönheit mit vielfältigen reizvollen Facetten. Einige Historiker glauben, dass die Geschichte Der verlorene Horizont von James Hilton, die das Shangri-La beschreibt, im Nordwesten von Yunnan spielt. Jener fiktive, sagenhafte Ort, in dem die Menschen in Frieden und Harmonie als Synonym für das Paradies leben.

Wieder ist Qiufen, die »Tagundnachtgleiche«, vorüber, und mit dem Nationalfeiertag beginnt die Goldene Woche, die Zeit der Feste und des Reisens. {Weiterlesen im Buch, Seite 163}

An dem Wochenende vor Beginn der Feierlichkeiten muss Urlaubszeit eingearbeitet werden, das gilt auch für mich. In der Mittagspause fragen mich meine chinesischen Kollegen: »Hey, Boss, was machst du zur Goldenen Woche?«

Ich erzähle, dass ich mit einer Reisegruppe aus Shanghai zum Trekking nach Yunnan fahre. Jeden Tag wollen wir vier bis fünf Stunden auf anspruchsvollen Pfaden im Hochgebirge wandern. Durch meine unzähligen Bergtouren in den Alpen fühle ich mich den kommenden Herausforderungen jedoch gewachsen. Prompt sehen mich meine Zuhörer staunend an und schnalzen mit der Zunge. »Wow, Yunnan, fantastisch. Das Essen dort ist gigantisch und einmalig. Du kennst inzwischen mehr von China als wir Chinesen selbst, unglaublich.«

Die Mosuo von Lijiang

Meine Hinreise nach Lijiang, der ersten Station in der Provinz Yunnan, verläuft unkompliziert . Der erwartete Ansturm von Reisenden an den Schaltern im Terminal 2 des Beijinger Flughafens ist ausgeblieben. Am frühen Nachmittag komme ich an und werde am Ausgang der Gepäckausgabe von den Tourguides abgeholt. Ich erkenne sie an dem weißen Pappschild des Veranstalters mit dem Logo in Türkis, das sie in die Luft halten. Die Guides, das sind ein junger einheimischer Wanderführer als ständiger, nicht besonders gesprächiger Begleiter, der seine blaue Fleecejacke und die ins Haar gesteckte Sonnenbrille mit Goldrand während der Reise nicht mehr ablegen wird, und die beiden jungen Frauen als die eigentlichen Reiseleiterinnen.

Grenna, die Chefin, und Della, ihre Assistentin, sind bereits am Morgen aus Shanghai angereist. Beide haben vor nicht allzu langer Zeit noch die Universität besucht, wie sie mir berichten. Der Job als Tourguide ist für die beiden eine Nebentätigkeit, um aus dem Trott des Berufsalltags auszubrechen . Ihre energiegeladene, unkomplizierte Art hilft ihnen dabei.

Wir reden über unsere ersten Eindrücke von der Stadt. Vieles im Straßenbild ist für mich typisch chinesisch, wie die Obstläden mit den zur Straße hin offenen großen Schaufenstern oder die unzähligen Shops mit den bunten Plastikartikeln für den Haushalt.

Dass Lijiang für die Chinesen auch für etwas anderes steht, erfahre ich, als Grenna mir erzählt, dass Lijiang die »Hookup City« ist, der ideale Ort für einen One-Night-Stand mit Option zur Wiederholung. Warum das so ist, lässt sich vermutlich mit der besonderen, lockeren Beziehung zwischen Männern und Frauen des Mosuo-Stamms erklären, die hier als Teil der offiziell von der Regierung anerkannten Naxi-Ureinwohner leben. Die Han-Chinesen, die in den meisten Regionen Chinas die große Mehrheit bilden, bleiben hier unter fünfzig Prozent Anteil an der Bevölkerung. Bei den Mosuos haben die Frauen zu Hause und auch sonst das Sagen. Die Männer kommen nur als Besucher und Liebhaber zur nächtlichen Stunde in den Wohnungen vorbei. Eine formelle Ehe gibt es faktisch nicht. Ein Mann muss für seine Kinder auch keinen Unterhalt zahlen. Er kümmert sich als zahlender Onkel um die Kinder seiner Schwestern, mit denen er unter einem Dach lebt. Der soziale Frieden scheint mit dieser Art Beziehung gesichert zu sein, zumindest im Südwesten Chinas.

Meine Unterkunft für die erste Nacht in Yunnan ist das Hotel Four Seasons nahe der Altstadt von Lijiang. Es ist empfindlich kalt an diesem frühen Abend. Und das, obwohl die Lage der Stadt auf einem 2600 Meter hoch gelegenen Plateau an den südöstlichen Ausläufern des Himalayas ganzjährig ein angenehmes Klima hat. Etwas wärmer wird es in meinem Zimmer erst, als mir die Rezeptionistin die Fernbedienung für die Klimaanlage bringt. Minutenlang steht sie lächelnd in der Tür und schaut zu, wie ich vergeblich versuche, damit den Kasten an der Wand zum Laufen zu bringen. Ihr gefällt, was ich da so treibe, und sie will gar nicht mehr gehen. Ist sie vielleicht eine Mosuo-Frau? {Weiterlesen im Buch, Seite 165}

Bis zum verabredeten ersten gemeinsamen Abendessen mit den anderen Mitgliedern der Reisegruppe bleibt mir noch etwas Zeit, um die Altstadt zu erkunden. Auf dem Weg dorthin fallen mir die vielen Handyshops auf, die wie Perlen einer Kette am Straßenrand aufgereiht sind. Vermutlich werden hier aufgrund der besonderen Beziehungen zwischen Frauen und Männern mehr Telefone benötigt, um die nächtlichen Treffen zu organisieren. Jedes Geschäft versucht, sich von dem anderen durch originelle Werbung abzuheben. Am interessantesten finde ich das Konzept mit den drei Mädchen in lila Outfits, die auf einer improvisierten Bühne im unterkühlten Eingangsbereich des Huawei-Händlers Hula-Hula-Tanzeinlagen zum Besten geben. Einen thematischen Bezug der hawaiianischen Tänze zur Provinz Yunnan kann ich zwar nicht erkennen, aber sie sehen auf alle Fälle erfrischend gut aus.

Hula-Hula-Tanzeinlagen im Eingangsbereich eines Huawei-Händlers in Lijiang.

Die Altstadt von Lijiang gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Grund dafür wird mir spätestens in dem Moment klar, als ich auf dem Marktplatz Sifang stehe und über die grauen Ziegeldächer der flachen Häuser schaue, die sich, einem Gewirr aus engen Kopfsteinpflasterstraßen folgend, sternförmig über die Berghänge ausbreiten. Zwischen den oft klapprig aussehenden Holzhäusern befindet sich ein weitläufiges Netz an schmalen Wasserkanälen, die sich durch die Gassen schlängeln. {Weiterlesen im Buch, Seite 166}

Die Altstadt von Lijiang am Marktplatz Sifang.

Einem der Wasserkanäle folge ich nordwärts zum Yuquan-Park mit dem Teich des Schwarzen Drachens und komme gerade noch rechtzeitig an, bevor die Pforten für den heutigen Tag schließen. Als Ausländer muss ich zehn Euro Eintritt bezahlen, Chinesen haben wegen des Nationalfeiertags freien Eintritt. Angesichts meines Unmuts über diese Ungleichbehandlung sagt mir die Frau im Kassenhäuschen beschwichtigend, dass das Ticket vier Wochen gültig sei, und fragt, ob ich morgen wiederkomme. Ich spare mir eine Höflichkeitsfloskel, denn morgen werde ich bereits wieder unterwegs sein.

Neugierig betrete ich den Park, ein wahres Meisterwerk chinesischer Gartenbaukunst. Im achtzehnten Jahrhundert als Rückzugsoase für einen Kaiser geplant, vereint die Anlage typische Stilelemente, wie ich sie bislang nur zu Hause in einem Bildband über die Gärten Chinas bestaunen konnte. Blickfang ist der Teich in der Mitte, den eine weiße Steinbrücke überspannt. {Weiterlesen im Buch, Seite 167}

Der Yuquan-Park mit dem Teich des Schwarzen Drachens.

Im Lauf des Nachmittags sind die meisten meiner Mitreisenden im Hotel angekommen. Ich bin der Einzige in der Gruppe, der aus der Hauptstadt angereist ist. Alle anderen haben sich aus Shanghai auf den weiten Weg nach Yunnan gemacht, sie kommen aus verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt. Uns alle vereint das Interesse, mehr von China zu entdecken als nur die touristischen Highlights, die in jedem guten Reiseführer hinreichend beschrieben sind.

Mit Jimmy, einem der beiden gebürtigen Chinesen in der Reisegruppe, unterhalte ich mich auf dem Weg zu dem urigen Restaurant, wo wir unser Abendessen einnehmen werden. Nach fünfzehn Jahren Regensburg spricht er akzentfrei Deutsch. Obwohl er inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist er gerade nach Shanghai umgesiedelt. In der Metropole hat er als Selbstständiger mehr Möglichkeiten, seine Firma für das Management von Designprojekten voranzubringen, sagt er. Und in der ostchinesischen Megastadt leben verrücktere Typen als in Regensburg, die den Alltag bunter machen. {Weiterlesen im Buch, Seite 167}

Am meisten hat er in Deutschland das Gemeinschaftsgefühl vermisst und natürlich die einzigartig zubereiteten Speisen, die es nur in China gibt.

Eine Kostprobe davon erhalten wir beim Hot Pot in dem Lokal, in dem sonst nur Einheimische sitzen. Der kleine Raum ist fast vollständig in weiße Rauchschwaden gehüllt, die aus den Kesseln auf den Tischen zur Decke aufsteigen. In die brodelnde Brühe kommt fast alles hinein, was in Yunnan angebaut wird. Das am Ende hinzugegebene Rindfleisch macht bei den vielen vegetarischen Zutaten die Suppe noch fett. Auf einem Blech außen um den Kessel herum brutzelt das Grillgut.

Ein Hot-Pot mit allem, was in der Provinz Yunnan angebaut wird.

Am Nachbartisch wird nicht mit dem üblichen Leichtbier angestoßen, sondern lautstark mit Hirseschnaps. Entsprechend feuchtfröhlich und ausgelassen ist die Stimmung in der Runde der trinkfesten einheimischen Gäste. Sie singen Volksweisen, deren Klänge für europäische Ohren eher an das Schreien von Katzen erinnern und mir durch Mark und Bein gehen. Schnell werden wir in ihr Trinkgelage mit einbezogen, wobei der Schnaps in Strömen fließt. Für Nachschub ist offenbar gesorgt, denn auf dem Tresen des Lokals stehen drei große verschlossene Glasbehälter, in denen verschiedene Früchte und Nüsse in Schnaps schwimmen. {Weiterlesen im Buch, Seite 168}

Ein feuchtfröhlicher Abend mit Hirseschnaps und Leichtbier.

Vom Hotel in Lijiang starten wir am nächsten Morgen in Richtung Yulong-Schneegebirge. Weil es einem liegenden weißen Drachen ähnelt, erhielt es den Namen Yulong, was übersetzt Jadedrache bedeutet.

Die Stimmung im Bus ist ausgezeichnet. Alle in der Gruppe freuen sich auf die kommenden Wanderungen im Hochgebirge. Wir fahren entlang des Flusses Jinsha, wie der Jangtse aus Tibet kommend hier an seinem Oberlauf heißt.

Durch das große Fenster auf der Fahrerseite sehe ich die vergletscherten Gipfel des Jadedrachen-Schneebergs. Die Naxi-Ureinwohner verehren den Berg als Schutzgott. Ob sein Schutz auch den vielen Arbeitern gilt, die am gegenüberliegenden Ufer in schwindelerregender Höhe Brücken für eine neue Autobahn bauen?

Es beeindruckt mich maßlos, wie die vom Bus aus winzig aussehenden Menschen scheinbar mühelos die faszinierende Berglandschaft im Norden Yunnans nach Gutdünken gestalten. Das Autobahnprojekt folgt einem bewährten Schema, wie die vielen anderen Bauten, die ich im Westen Chinas gesehen habe. Zuerst werden die Berghänge vor dem möglichen Abrutschen gesichert und dann die stecknadelförmigen hohen Betonpfeiler in die Täler der Schluchten eingepflanzt. Am Ende setzen riesige Kräne bereits vorgefertigte Fahrbahnsegmente oben auf die Tragkonstruktion. Fertig ist der LEGO-Bausatz »Wir bauen den besten Highway für Chinas Vormachtstellung in der Welt«. Genau dieses Motto steht auf den roten Bannern mit den mannshohen weißen chinesischen Schriftzeichen, die mir die Reiseleiterin übersetzt. {Weiterlesen im Buch, Seite 169}

Ein LEGO-Bausatz made in China für die Zukunft der Provinz Yunnan.

Nach zwei Stunden gemütlicher Busfahrt mit Panoramabildern, die wie am Fließband vorbeiziehen, geht es von der Ortschaft Qiaotou zu Fuß weiter. Der ausgeschilderte Höhenweg zur Tigersprungschlucht, unserem Tagesziel, ist mit einer durchschnittlichen Höhe von 2500 Metern eine der beliebtesten Trekkingtouren in ganz China. Doch schon nach wenigen Metern stoppt unsere Wandergruppe abrupt. Ein Haufen riesiger Gesteinsbrocken versperrt den Weg. Drüberklettern ist unmöglich, also müssen wir an dieser Stelle einen steilen Berghang hinauf. {Weiterlesen im Buch, Seite 170}

Der Höhenweg führt uns weiter zum ersten Rastplatz. Es ist die Zeit um Mittag herum, in der sich jeder Chinese intuitiv um etwas Essbares kümmert. Wir steuern dafür ein Gasthaus an. Es wird von einer Familie bewirtschaftet, die der ethnischen Gruppe der Naxi angehört.

Der Weg dorthin zieht sich fast nur bergauf mit vielen Weggabelungen, bei denen selbst die Tourguides überlegen müssen, welche Abzweigung die richtige ist.

Ein willkommener Rastplatz auf dem Pfad im Hochgebirge.

Die Bauernfamilie empfängt uns in geübter Weise sehr freundlich und tischt in Windeseile gegarte vegetarische Leckereien auf, die Appetit auf mehr machen. Der Ort ist eine Insel der Ruhe in einem zu allen Seiten hin geschlossenen Gehöft. Hier kehrt, wie wir uns sagen lassen, wirklich fast jeder Wanderer auf dem Höhenweg ein, um sich zu stärken.

Nach der Verschnaufpause setzen wir unseren Weg fort, vorbei an winzigen, einsam wirkenden Dörfern, in denen die Wachhunde aufgeregt bellen. Ein schmaler Pfad mit achtundzwanzig engen Kehren führt bis zum höchsten Punkt der Schlucht. Wir alle keuchen schwitzend diesem Ziel entgegen. {Weiterlesen im Buch, Seite 171}

Der Weg ist das Ziel auf der Trekking-Route zur Tigersprungschlucht.

Nachdem wir den höchsten Punkt der Tour auf 2660 Metern erreicht haben, stehe ich am Rand der sagenumwobenen Tigersprungschlucht. An der engsten Stelle soll einst ein Tiger fünfundzwanzig Meter weit über die Schlucht gesprungen sein, um einem Jäger zu entkommen.

Das Land der Berge und der Wolken.

Das letzte Stück bis zur Felskante versperrt ein Mütterchen, das zwanzig Yuan für den Durchgang verlangt. Aber an diesem Tag habe ich nicht das Bedürfnis, Wegzoll zu zahlen, wenngleich die Summe umgerechnet nur etwas über zwei Euro beträgt. So genieße ich aus der zweiten Besucherreihe das einzigartige Naturschauspiel. Dröhnend schießt das Wasser des wilden Gletscherflusses Jangtsekiang unter mir zwischen den Felsen hindurch. Gigantische 3900 Meter Höhenunterschied vom tiefsten bis zum höchsten Punkt des Schneegebirges machen die Tigersprungschlucht zur tiefsten Schlucht der Welt. {Weiterlesen im Buch, Seite 171}

Nach einem vierstündigen Wandertag treffen wir in der Halfway Lodge ein, unserer Unterkunft für die Nacht. Es handelt sich um eine einfache Herberge, die der Eigentümer mit Liebe zum Detail eingerichtet hat. Die Zimmer sind mit echten Blumen und Pflanzen geschmückt, was in der farbenfrohen Plastikwelt Chinas keinesfalls selbstverständlich ist. Die breite Terrasse lockt mit einer fantastischen Aussicht, und als wir uns hier das Feierabendbier schmecken lassen, baut sich genau über der Schlucht ein filmreifer Regenbogen auf. Was für ein Timing.

Die urige Unterkunft für die Nacht im Schneegebirge.

Bei Bier und Tee sitzen wir alle bis zum späten Abend zusammen, um uns über Erlebnisse und Erfahrungen in China auszutauschen. Es gibt Geschichten von jungen deutschen Bankern, die in China für die Deutsche Bank lukrative, aber auch riskante Anlagengeschäfte tätigen. Oder von einem Pariser Modedesigner, der rein äußerlich so gar nicht zu den Klischees der glitzernden Modewelt passen will. Als begeisterter Hobby-Motorradrennfahrer ist er am Wochenende oft auf einem Rundkurs in Shanghai unterwegs und sucht in der Geschwindigkeit den gewissen Kick. Unsere Gruppe erscheint mir wie ein menschliches Kaleidoskop mit bunten Pixeln des Lebens aus der ganzen Welt. An diesem Ort nahe der Tigersprungschlucht verbindet uns der Zauber einer traumhaften Landschaft mit offenen, freundlichen Menschen. Nachdem, was ich bisher gesehen habe, ist Yunnan für mich bereits einer der schönsten Flecken auf unserem Planeten. {Weiterlesen im Buch, Seite 172}

Nachts wird es in meinem kleinen Zimmer merklich kalt, die Temperatur nähert sich dem Gefrierpunkt. Aber der an Komfort gewohnte Reisende braucht solche Herausforderungen nicht zu fürchten, denn auf der Matratze liegt eine elektrische Heizdecke, die wohlige Wärme garantiert.

Am nächsten Morgen sind alle zeitig abfahrbereit. Mit dem Minibus geht es im Morgennebel die Serpentinen der engen Bergstraße hinab bis zur mittleren Höhe der Schlucht. Dort angekommen lassen wir in einer Gastwirtschaft das Reisegepäck zurück und nehmen im Rucksack nur das Allernötigste mit auf den Pfad aus Schotter und Geröll, der uns hinunter zum Flussbett führt. {Weiterlesen im Buch, Seite 173}

Die Legende besagt, wer es bis zum Flussbett des Jangtse schafft, dessen Leben wird sich schlagartig ändern. Ich kann jedoch an Ort und Stelle keine spürbaren Veränderungen an mir feststellen, außer meiner spontanen Freude über den Anblick des tosenden Wassers und der gewaltigen Berge über mir. Die durchschnittliche Wassertiefe in der Schlucht beträgt vierzig Meter, lese ich auf dem Hinweisschild am Felsen. Dort steht auch, dass das Wasser hier mit einer Geschwindigkeit von fast achttausend Kubikmeter pro Sekunde durchrauscht.

Am Flussbett des Jangtse in der Tigersprungschlucht.

Die Strömung bringt die Felsen in meiner unmittelbaren Nähe zum Beben. Die Gischt, die an den glatten Steinen emporschlägt, formt abstrakte Gebilde, die sogleich wieder verschwinden. Ich bin glücklich und strecke als Zeichen meiner Dankbarkeit beide Daumen nach oben in die Luft. Und plötzlich, als ich wieder vom Fluss in Richtung der Felswände aufblicke, sehe ich den Tiger. {Weiterlesen im Buch, Seite 173}

Der Weg vom Fluss zurück zu unserem Ausgangspunkt führt über etliche glitschige, etwa zehn Meter lange Leitern senkrecht aus dem Abgrund. Mein Rucksack wiegt gefühlt tausend Tonnen, die Trageriemen schneiden schmerzhaft in meine Schultern. An der Felswand lese ich die aufmunternde Botschaft in roten Lettern: »Yeah, I can do it«. Und es geht weiter, immer weiter . Und irgendwann ist der Aufstieg tatsächlich geschafft.

Ein steiler Pfad zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung.

Nach einer kurzen Pause am Gasthaus fahren wir mit dem Bus weiter in Richtung Westen. Unterwegs sortiere ich meine Sachen im Rucksack. Ein Schreck durchfährt mich, als ich feststelle, dass ich die Hälfte der Ausrüstung, darunter ein paar wichtige Medikamente, bei der eiligen Abfahrt vergessen habe einzupacken. {Weiterlesen im Buch, Seite 174}

Tief im Tal und vor der Kulisse der Yunling-Berge beschreibt der langsam fließende Strom, der längste Fluss Asiens, an dieser Stelle einen beeindruckenden großen Bogen, entstanden durch geologische Erdbewegungen Jahrtausende zuvor. Es ist die erste Biegung des Flusses, nicht allzu weit von dem Städtchen Shigu entfernt, einem wichtigen inländischen Handelsplatz für Tee und Pferde. {Weiterlesen im Buch, Seite 174}

Die erste Biegung des Jangtse in der Nähe des Städtchens Shigu.

Schon geht es weiter. Während der Fahrt ziehen an den großen Fenstern des Busses die bunten Gebetsfahnen und geschmückten Stupas der vielen kleinen buddhistischen Tempel entlang der Straße vorbei. Das sind Anzeichen dafür, dass wir uns nicht weit vom Autonomen Gebiet Tibet im Nordwesten Yunnans bewegen, in einer der wildromantischsten Landschaften in China. In wolkiger Höhe auf etwa 3500 Metern fahren wir inmitten des Meili-Snow-Mountain-Nationalparks zu dem Ort Feilai Si hoch über dem Tal des Mekong. Er ist vor allem bei chinesischen Touristen beliebt wegen der fantastischen Aussicht auf den Berg Kawa Karpo, dem mit 6740 Metern höchsten Gipfel des Meili-Schneegebirges und zugleich der Provinz Yunnan.

Zu später Stunde kommen wir in Feilai Si in dem kleinen Hotel nahe dem gleichnamigen Kloster an. Die frostige Kälte der Nacht kriecht in alle Ecken der schäbigen Unterkunft. Es gibt keine Heizung, mein Zimmer starrt vor Dreck und Staub. Das grelle Neonlicht an der Decke kennt keine Gnade. Da hilft es nur, so schnell wie möglich zurück ins Freie zu flüchten und die Umgebung zu erkunden. Und die ist in diesem Moment tatsächlich einladender.

Entlang der Hauptstraße haben noch die vielen kleinen Geschäfte geöffnet, die alle das gleiche Sortiment an diversen Sportsachen, billigen Souvenirs made in Yunnan und natürlich hochprozentigem Alkohol anbieten. Weiter unterhalb im Ort finde ich das, wonach ich gesucht habe: ein gemütliches Café mit dicken weichen Sofakissen und brennenden Kerzen auf dem Tisch. Der Rotwein, der hier serviert wird, ist für meinen Geschmack etwas zu lieblich . Erkommt aus Yunnan, wie anscheinend jedes der hier angebotenen Produkte. Vom Sandwich bis zu Café und Tee, alles trägt den Namen der Provinz.

An den Wänden hängen Fotografien von spektakulären Landschaften, schneebedeckten Bergen, imposanten Gletschern, tiefen Schluchten, reißenden Flüssen, kristallklaren Seen und dramatischen Wasserfällen. Es sind Bilddokumente aus dem Nationalpark »Drei parallel verlaufende Flüsse«, in dem wir auf Trekkingtour gehen werden. Hier fließen über rund dreihundert Kilometer die drei Flüsse Jangtse, Salween und Mekong in zum Teil noch unberührten Landschaften von Tibet kommend parallel in südlicher Richtung. Die Flüsse durchschneiden steile Schluchten, die von den Gipfeln der bis zu 6000 Meter hohen schneebedeckten Berge bis zu den drei Flussbetten Höhenunterschiede von bis zu 3000 Metern aufweisen. Weil dieses Areal zu den geologisch und biologisch vielfältigsten Gebieten der Welt gehört, steht es als Weltnaturerbe unter dem besonderen Schutz der UNESCO. Das Meili-Schneegebirge mit dem Kawa Karpo und den markanten dreizehn Gipfeln ist ein Teilgebiet und eine Hauptlandschaft des Nationalparks. Die sich aneinanderreihenden über 6000 Meter hohen Gipfel sehen aus wie die Ehrengarde des Schneegottes.

Früh am nächsten Morgen ist es genauso kalt wie in der Nacht zuvor. So fällt es mir auch nicht allzu schwer, schnell aufzustehen, damit ich den Sonnenaufgang im Meili-Schneegebirge beobachten kann. Bibbernd vor Kälte stehen wir Wanderfreunde, mit Handys und Kameras bewaffnet, auf der Dachterrasse des Hotels, um genau diesen einen Moment zu verewigen, der anschließend über WeChat oder WhatsApp seine Reise in die weite Welt antreten wird. Aber zunächst sind nur die Umrisse des Feilai-Tempels auf der gegenüberliegenden Straßenseite auszumachen. Dieser Tempel aus der Ming-Dynastie ist ein wichtiger Ort für Gläubige und Anhänger des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus. Berühmt ist er aber hauptsächlich für seine Aussichtsplattform, von der aus sich atemberaubende Blicke auf den Kawa Karpo eröffnen. {Weiterlesen im Buch, Seite 177}

Der Feilai-Tempel am Morgen mit Blick auf dem Kawa Karpo.

Als wir Frühaufsteher die ersten Sonnenstrahlen über dem Gebirge erblicken, sind alle für Sekunden sprachlos, bevor das Klicken der Fotoapparate einsetzt. Zwischen Blau, Weiß, Rot und all den nuancierten Zwischentönen zeigen sich der Himmel, die Landschaften und der Tempel im Vordergrund in einem bezaubernden Farbenspiel. Ein bleibendes Souvenir aus der Provinz Yunnan im tiefsten Westen Chinas.

Der Lohn für die Frühaufsteher mit einem grandiosen Blick auf den Sonnenaufgang über dem Gebirge.

Wunderland Yubeng

Nach so vielen positiven Eindrücken verlassen wir gut gelaunt Feilai Si und freuen uns auf die nächste Reiseetappe. Der Bus fährt hinab zum Mekong-Fluss, der sich umgeben von Felsmassiven tief ins Tal eingegraben hat. Er wird in seinem gesamten Verlauf später sechs Länder durchqueren und ist damit eine wichtige Lebensader Südostasiens. {Weiterlesen im Buch, Seite 177}

Nach etwa fünfzig Kilometern erreichen wir in Xidang auf 2650 Metern den Startpunkt unserer Trekkingtour.

Einheimische Wanderführer warten am Ortsausgang mit ihren japanischen Geländewagen und den Lastpferden auf Touristen, die ihr Gepäck oder gleich sich selbst in das tibetische Dorf Yubeng bringen lassen. Die meisten unserer Gruppe bewältigen den Hochgebirgspfad durch den dichten Wald bis zu diesem Tagesziel aus eigener Kraft. Mit schwerem Gepäck auf dem Rücken ist das eine schweißtreibende Angelegenheit, die nicht enden will. Eine Kehre folgt der anderen auf den ausgetretenen steilen Pfaden im Meili-Schneegebirge, dem östlichen Ausläufer des Himalayas.

Unterwegs gibt es zwei Bretterbuden, in denen Tee, Yakbuttertee, Kaffee und Wasser aus Plastikflaschen verkauft werden. Der berühmte Buttertee wird durch das Mischen von Tee mit Yakbutter und Salz zubereitet, sodass er eher nach einer fettigen Brühe als nach Schwarztee schmeckt. {Weiterlesen im Buch, Seite 178}

Ein Brotzeitstand der besonderen Art am Hochgebirgspfad.

Auf dem Weg durch den Wald überhole ich viele chinesische Jugendliche, die sich in Gruppen, vollgepackt mit Süßigkeiten, im Rhythmus der Musik aus dem Gettoblaster vorwärtsbewegen. Achtlos lassen sie ihren Plastikmüll einfach auf den Boden fallen, wohl kaum als Wegmarkierung für die Nachfolgenden.

Der Chef des Hauses bereitet den Yakbuttertee für die Wanderer vor.

Endlich, auf einer Höhe von 3740 Metern über Normalnull, erreichen wir den Nandsung-Pass. Wild flattern die Gebetsfahnen im Wind. Genauso wild pocht mein Herz vor Anstrengung in der dünnen Luft hier oben. Aber die Ausblicke auf das schneebedeckte Massiv des Meili-Schneegebirges lassen mich rasch alle Strapazen vergessen. Schnell noch ein Foto mit und in der Wandergruppe, und schon mahnt der Guide zum Weitergehen. Für den Abstieg zu dem Dorf Yubeng sind noch einmal gut sechshundert Höhenmeter zurückzulegen.

Angekommen am Nandsung-Pass in einem Meer aus Gebetsfahnen.

Unterwegs komme ich mit Della ins Gespräch, die als zweiter Tourguide für alle Fragen und Anliegen immer prompt eine Lösung findet. Dabei ist sie mit ihren Gedanken auch bei den Planungen für ihr eigenes Business, wie sie erzählt. Mit ihrem Studiendiplom in Kinderpädagogik in der Tasche hat sie in einer Shanghaier Shoppingmall eine private Einrichtung für autistische Kinder zwischen drei und sechs Jahren eröffnet. Dort bekommen die Kinder eine Einzelbetreuung von meist jungen Lehrerinnen. Nach außen hin ist die Einrichtung nicht als Sonderschule zu erkennen, denn die betroffenen Angehörigen versuchen, den Schein einer »normalen« Familie zu wahren. Persönliche Probleme werden in China nur äußerst selten in die Öffentlichkeit getragen. {Weiterlesen im Buch, Seite 180}

Im Nu verfliegt die Zeit an diesem Nachmittag, bis wir an einer Lichtung stehen, von der aus Yubeng weit unten im grünen Tal zu sehen ist. Postkartenreif erhebt sich dahinter das Meili-Schneegebirge.

Der Ort Yubeng im grünen Tal des Meili-Schneegebirges.

Der Legende nach war das tibetische Dorf jahrhundertelang der Außenwelt unbekannt. Eines Tages kam ein fremder alter Mann in das Dorf Xidang nahe dem Mekong und wollte dort Hochlandgerste kaufen. Niemand wusste, woher er kam. {Weiterlesen im Buch, Seite 180}

Unsere Gruppe erreicht nach fünf Stunden Trekking kurz vor dem Dunkelwerden den oberen Teil von Yubeng. Hier dreht sich fast alles um Touristen, Trekking, Essen, Schlafen und natürlich um Pferde. Von diesen gibt es geschätzt mehr im Ort als Dorfbewohner, da zahlungskräftige Touristen gern hinauf in die Berge reiten. Die Hiker in ihren bunten Goretexjacken bewegen sich entspannt unter den einheimischen Tibetern. Schweine, Schafe, Yaks und anderes Getier schlendern die Dorfstraßen entlang bis zum nächsten Futtertrog oder zur Weide am Ortsrand mit dem saftigen Hochgebirgsgras. Überhaupt haben offenbar alle Tiere in dem verschlafenen Nest ein tierisch gutes Leben.

Einfach ein tierisch gutes Leben im tibetischen Dorf Yubeng.

Für die Übernachtung werden die Teilnehmer unserer Tour auf verschiedene Pensionen verteilt. Mein Quartier befindet sich im Anbau einer Gastwirtschaft in der Ortsmitte. Viel Zeit bleibt mir nicht, um mich von der Wanderung zu erholen und zu duschen, denn nur dreißig Minuten lang gibt es am Abend warmes Wasser aus dem Boiler. Die folgende Nacht gehört zu jenen, die ich nie vergessen werde. {Weiterlesen im Buch, Seite 181}

Am anderen Morgen brechen wir in Richtung Kawa Karpo auf. Ich fühle mich extrem müde und verspüre leichte Kopfschmerzen. Nur schwer kann ich mich auf den vor mir liegenden Pfad konzentrieren, der hinaus aus dem Dorf führt, vorbei an einem großen bahnhofsähnlichen Holzhaus, vor dem Touristen auf ihren Guide warten, der sie mit Packpferden hinauf in das Gletschergebiet bringen soll. Es ist ein steiler, teilweise rutschiger und steiniger Weg, bei dem mir immer wieder bewusst wird, was die Pferde hier leisten. Erhaben ragt das Massiv des Schneegebirges vor mir auf, das aus insgesamt dreizehn Gipfeln besteht und von den Chinesen als »Berg der dreizehn Prinzessinnen« bezeichnet wird. Die Tibeter haben den Hauptgipfel nach dem Berggeist Kagebo benannt. Jedes Jahr vom späten Herbst bis zum frühen Winter kommen Pilger hierher, um den heiligen Berg Osttibets in etwa zwei Wochen zu umrunden. Die vielen Gebetsfahnen am Wegrand zeugen davon.

So ausdauernd sind die Touristen nicht, und nur die wenigsten von ihnen steigen hinauf bis zum Eissee auf eine Höhe von 3864 Metern. Doch für mich kommt an dieser markanten Stelle ein wahres Expeditionsgefühl auf, als ich nach einer dreistündigen Wanderung im sportlichen Tempo zum ersten Mal den türkisgrünen Gletschersee erblicke. Von hier aus bewundere ich die Hängegletscher mit den großen Einkerbungen und Einbrüchen sowie die weiten Firnfelder des Hauptgipfels. Um länger zu verweilen, ist allerdings keine Zeit, denn der Rückweg nach Yubeng ist lang. Über die Hochebenen mit den Blumenwiesen und durch den dichten Wald geht es bergab.

Der wunderschöne Gletschersee Eissee als Ziel einer traumhaften Wanderung im Schneegebirge.

Nach einer zweistündigen Sprinteinlage über Stock und Stein zurück nach Yubeng sitzen wir müden Wanderer am Abend auf der Dorfwiese zusammen am Lagerfeuer mit Bier und Unmengen an gegrilltem Fleisch. Wir schauen den funkelnden Sternen am Nachthimmel zu. Schemenhaft sind die Waldfeen zu sehen, die direkt vor uns unter den strengen Augen der hoch aufragenden Berggottheit des Meili-Schneegebirges im Blumenmeer tanzen. All diese Eindrücke machen den Ort zu einem Wunderland, zu einer Miniatur des mythischen Shangri-La.

Das neue Shangri-La

Wo liegt das Paradies Shangri-La wirklich, das auf Tibetisch »Land der Heiligkeit und des Friedens« heißt? In dem 1933 erschienenen Roman Der verlorene Horizont von James Hilton erzählt der britische Schriftsteller die fiktive Geschichte von vier Menschen, die nach einer Notlandung im tibetischen Bergland in der Abgeschiedenheit des Lamaklosters Shangri-La auf Sinnsuche gehen. {Weiterlesen im Buch, Seite 183}

Der Mythos von Shangri-La endete kurz nach der Jahrtausendwende, als die chinesische Führung eine entlegene Gegend in der Provinz Yunnan so benannte, um Touristen anzulocken. Heute ist der einst verlassene Landstrich im Südwesten Chinas eines der beliebtesten Reiseziele im Reich der Mitte. Der Name der Stadt wurde erst 2001 von den chinesischen Behörden geändert. Bis dahin hieß der Ort Zhongdian. Shangri-La bedeutet »Sonne und Mond im Herzen«, quasi ein buchstäblicher Himmel auf Erden.

Shangri-La liegt in gut 3000 Meter Höhe an der historischen Tee- Pferde-Handelsroute, die Yunnan mit Tibet verbindet. Sie wird unser nächstes Reiseziel sein.

Doch zuvor heißt es nach zwei wunderschönen Tagen Abschied vom Meili Schneegebirge zu nehmen und das Dorf Yubeng hinter uns zu lassen. Gemeinsam wandern wir entlang der Yubeng-Schlucht etwa sechzehn Kilometer ständig bergab, bis wir das Dorf Nilong am Mekong auf 2300 Metern Höhe erreichen. Je tiefer wir kommen, desto wärmer wird es, und die Vegetation wird zunehmend üppiger. In mir steigt Wohlgefühl auf. Ich lasse den Beinen freien Lauf und lege die letzten Kilometer rennend bis zum Treffpunkt am Ortsrand von Nilong zurück.

Hier steigen wir in den Bus und fahren nach Cizhong, ein erstaunliches Dorf, das von katholischen Tibetern bewohnt wird. Es liegt auf einem sonnigen Plateau am westlichen Ufer des Mekong. Seit der Ankunft französischer Missionare vor etwa hundert Jahren ist der idyllische Ort christlich geprägt, deutlich zu sehen an der katholischen Kirche, der einzigen in der Provinz Yunnan. Von außen weist das Gotteshaus chinesische und westliche Stilelemente auf. Die letzten beiden ausländischen Priester wurden von Maos Regierung des Landes verwiesen, als jede Religionsausübung strafbar war. {Weiterlesen im Buch, Seite 184}

Das Dorf Cizhong am westlichen Ufer des Mekong mit Kirche und Weinbergen.

Neben dem christlichen Glauben haben die Missionare auch die Weintrauben in das Mekong-Tal gebracht. Das Klima in dieser Gegend eignet sich bestens für den Weinanbau. Nicht weit von der Kirche entfernt liegt einer von vielen kleineren, eher flachen Weinbergen, die mich an die Toskana erinnern. {Weiterlesen im Buch, Seite 184}

Am frühen Abend erreichen wir nach einer traumhaften Busfahrt durch ein weites Hochtal mit weidenden Yaks und Bergketten, die den Beginn des Himalayas markieren, das neue Shangri-La, unsere letzte Station auf dieser Reise. Die Stadt blickt auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurück. Lange galt sie als größtes Wohngebiet der Tibeter in China. Die Altstadt, in der auch unser Hotel liegt, ist umgeben von den ausgedehnten Gebieten der neueren Stadtviertel. Alles wirkt hier weitläufig, scheinbar visionär und überdimensional protzig.

Die restaurierte Altstadt von Shangri-La.

In die Altstadt darf unser Bus nicht hineinfahren. Also heißt es, mit den großen Rucksäcken und den vollgepackten Reisetaschen irgendwie im Gewirr der engen gepflasterten Gassen zur Herberge zu gelangen. {Weiterlesen im Buch, Seite 184}

Die rekonstruierte Altstadt ist mit den vielen Geschäften, die Yakfleisch, Andenken und Textilien verkaufen, fast vollständig auf Kommerz getrimmt. Zahlungswillige Besucher gibt es jedoch zur späten Stunde nur wenige. Die meisten der chinesischen Touristen flanieren nur entspannt durch die Gassen. Manche von ihnen halten eine Spraydose mit reinem Sauerstoff in den Händen, für den Fall, dass ihnen in dieser Höhenlage die Luft ausgeht. Vom Marktplatz aus schaue ich auf die hell beleuchtete dreistöckige Tempelanlage, die auf einem kleinen Hügel im Stadtzentrum thront. Dicht daneben steht eine riesige goldschimmernde Gebetsmühle, die als weltweit größte ihrer Art über die Dächer der Stadt hinwegschaut. Es bedarf schon einiger Anstrengungen, damit zehn Leute unserer Reisegruppe dieses klobige Teil in Bewegung setzen können.

Das grosse vergoldete Gebetsrad im Guishan Park (i303708142).

Gleich nach dem Einchecken im Hotel, das eindeutig zu der Herberge mit dem höchsten Standard der Reise gehört, geht es weiter zu einer Festhalle am Rand der Altstadt, wo wir uns die »Yunnan-Show« ansehen wollen. Der wolkenlose Nachthimmel sorgt bereits im Spätherbst für frostige Temperaturen. Bei unserer Ankunft in der Festhalle sitzen die meisten Zuschauer schon auf den Holzbänken. Aufführungen wie die Yunnan-Show sind auch für westliche Touristen eine Attraktion. Von Beginn an begeistert uns die temporeiche und choreografisch anspruchsvolle Darbietung mit Tänzen, Kostümen und Musik der verschiedenen Minderheiten in dieser Provinz. Die Traditionen der Volksgruppen werden farbig, dynamisch und modern in die heutige Zeit transferiert. Und natürlich werden bei solch einem Event auch ausgewählte kulinarische Leckerbissen serviert.

Die Yunnan-Show in der Festhalle am Rand der Altstadt.

China ist berühmt für seine acht großen Regionalküchen, und jeder Chinese ist stolz auf das köstliche Essen seiner Heimatregion. Doch nirgendwo sonst im Reich der Mitte gibt es eine so vielfältige Kochkultur wie in der Provinz Yunnan mit ihren offiziell sechsundzwanzig Ethnien. Gebratene Hornissenpuppen, der Salat aus tausendjährigen Eiern oder der Ananas-Klebreis sind nur einige Beispiele, bei denen allein schon der Name des Gerichts ein Gaumenerlebnis erwarten lässt. {Weiterlesen im Buch, Seite 186}

Nach dem Festschmaus versammeln sich alle Gäste auf dem großen Platz vor dem Restaurant, wo ein Feuer entzündet wird. Bei traditioneller Musik mit einem treibenden Rhythmus tanzen die Darsteller um das Feuer. Zwei große Schritte vor, drei auf der Stelle, innehalten. Diese Abfolge gilt es, sich einzuprägen, denn nach einer Weile werden auch die Besucher aufgefordert, sich in den Kreis der Tanzenden einzureihen. Immer wieder springt jemand ausgelassen über das Feuer hinweg, was Glück und ein langes Leben bringen soll. Doch irgendwann endet auch der schönste Zauber, und zum Abschluss der Show wird ein Feuerwerk gezündet.

Traditionelle tibetische Tänze am Abend.

Am nächsten Vormittag, nach sieben goldenen Tagen an einem der schönsten und vielfältigsten Flecken Chinas, bringt uns der Bus auf direktem Weg zurück zum Ausgangsort unserer Tour durch die Provinz Yunnan, die zu Recht auch als die »grüne Krone« Chinas bezeichnet wird. Lijiang Airport, 15 .20 Uhr, Flug MU 5711 nach Beijing: »Thank you for choosing China Eastern Airlines and we wish you a pleasant flight .«

Mit geschlossenen Augen lasse ich im Flugzeug die intensiven, opulenten Bilder aus dem Norden Yunnans an mir vorbeiziehen. Ein Dokumentarfilm in Farbe, den ich im Schnelldurchlauf gedanklich vor- und zurückspule. Die erlebnisreiche Zeit mit den anderen Tourteilnehmern bei den Fahrten mit dem Bus und den ausgedehnten Wanderungen in den Nationalparks kommt mir doppelt so lang vor, als hätte ich zwei Wochen Aktivurlaub hinter mir. Und dieses Empfinden ist immer ein gutes Zeichen für Erholung pur.

Yunnan, das Land südlich der Wolken.

Mehr in dem Buch „Go West. Unterwegs im anderen China“

1 Gedanke zu „Goldene Tage in Yunnan“

  1. Auch zu den „Goldenen Tagen in Yunnan“ ergänzen die gezeigten Fotos die unterhaltsam wie bildend beschriebenen Hikes noch einmal sehr gut. Besonders den Ort des Tigersprunges hatte ich mir dann doch etwas anders vorgestellt.
    In Yunnan ist es doch noch einmal eine andere Welt als in den Metropolen wie Chongqing mit ihrem rasanten Wandel, und es bleibt zu hoffen, dass nicht auch diese wilden Schluchten eines Tages den Staudamm- und Autobahn-Erbauern zum Opfer fallen.
    Ich habe den Mekong im sechsten (und letzten) der Länder „erlebt“, in einem der Arme im ewig breiten Delta die letzten der Schwimmenden Märkte im Langboot besucht. Wie lange haben wir noch die Chance dazu, uns in Menschen im ~Einklang mit der Natur einzufühlen?
    Nun, da hoffentlich die Covid-19-Pandemie die größte Gefahr verloren hat, bleiben dennoch das Bewusstsein um das sensible Weltklima und den fragilen Frieden zwischen Reich und Arm, das den Mut zu solchen Individual-Reisen nicht wirklich beflügelt, von den Möglichkeiten ganz zu schweigen.
    Da wir von schnellen Bildern überflutet werden, deren Wahrheitsgehalt wir in den wenigsten Fällen überprüfen können, sollten wir mehr solcher Bücher (schreiben und) lesen!

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