Eine Goldene Woche in Tibet

Die Textpassagen wurden als Zitate dem Buch “Go West. Unterwegs im anderen China” entnommen. Die Fotos sind Smartphone Momentaufnahmen bzw. von iStock (i), Wikimedia Commons (WC) und Alamy (A) sowie von anderen Quellen entnommen, Bilder (siehe ID’s bei den Bildunterschriften).

Am 1. Oktober wird zu Ehren und in Erinnerung an die Staatsgründung 1949 Chinas Nationalfeiertag begangen. Es versteht sich fast von selbst, dass dann nahezu alle Chinesen arbeitsfrei haben. Der erste Oktober ist gleichzeitig der Beginn der sogenannten Goldenen Woche, in der die meisten Chinesen Urlaub haben. Diese Zeit ist in China gleichbedeutend mit Massentourismus und mit der größten Völkerwanderung der Welt. Viele nutzen die Gelegenheit, um an ihren Heimatort zu fahren und die Familie zu besuchen. Inzwischen bereisen aber insbesondere die jüngeren Chinesen auch beliebte touristische Ziele in ihrem Land oder in Übersee.

Tibet, als »Dach der Welt« bekannt, ist ein Hochplateau mit türkisgrünen Seen, Wüsten, buddhistischen Klöstern und den Gipfeln des Himalayas im Süden, die zu den höchsten der Welt zählen. Politisch gehört der größte Teil Tibets offiziell seit 1965 als autonomes Gebiet zur Volksrepublik China.

Die Goldene Woche, die erste Woche im Oktober mit dem Nationalfeiertag und dem Mondfest oder Mittherbstfest, ist die wichtigste Urlaubszeit in China. Im chinesischen Jahr des Hahns 2017 fällt das Mondfest auf den 4. Oktober. Allein in den ersten vier Tagen des Monats sind vierhundertsechzig Millionen chinesische Touristen im eigenen Land unterwegs, wie das Nationale Tourismusbüro berichtet.

Zeit für einen Schwatz mit den Nachbarn am Nationalfeiertag im Stadtteil Chaoyang von Beijing.

Ich nutze diese freie Zeit für einen Trip nach Tibet, das bei mir seit Langem ganz oben auf der Liste meiner Reiseziele steht. Seit Jahrhunderten fasziniert das exotische Land mit dem tief im Alltag verwurzelten buddhistischen Glauben Entdecker aller Art auf der Suche nach dem Göttlichen, der erleuchtenden Weisheit oder dem puren Abenteuer in den Bergen und auf den atemberaubenden Hochebenen.

Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Tibet ein eigenes Staatswesen unter der Führung des Dalai Lama, der aktuell mit der Exilregierung im grenznahen Dharamsala in Indien lebt . Nach deren Schätzungen leben im Hochland von Tibet heute sechs Millionen Tibeter und etwa sieben Millionen Chinesen. Aufgrund der politischen Entwicklungen kam es insbesondere in der Hauptstadt Lhasa immer wieder zu Unruhen. Ausländer dürfen daher nur mit einer organisierten Gruppenreise in die Region einreisen. Die Erlaubnis dafür ist rechtzeitig zu beantragen und während des Aufenthalts in Tibet jederzeit mitzuführen. Das alles wissend entscheide ich mich bei der Vorbereitung für eine Reiseagentur in Shanghai. Diese wickelt die gesamte Planung über WeChat ab, die chinesische App, die weit mehr ist als ein Messengerdienst. {Weiterlesen im Buch, Seite 121}

Für das sogenannte »Travel Tourism Permit« brauche ich den Pass, das Arbeitsvisum, die polizeiliche Meldebestätigung und ein beglaubigtes Führungszeugnis meines Arbeitgebers. Zwei Wochen, nachdem ich alles eingereicht habe, bekomme ich das ersehnte Dokument per Post. Damit bin ich einer der etwa eine Million Ausländer, die pro Jahr nach Tibet einreisen dürfen. Ein Visum und ein gültiges Permit sind jedoch keine Garantie. Falls sich die allgemeine Lage ändert, kann die Einreise auch verweigert werden. Für die Weiterreise von Lhasa in die ländlichen Regionen Tibets benötigt man eine gesonderte Erlaubnis. Aber das regelt dann zum Glück der Reiseveranstalter. Unterwegs müssen all diese Dokumente wiederholt an Kontrollpunkten vorgelegt werden, an denen Polizei und Armee das Vorhandensein und die Gültigkeit überprüfen.

Lhasa und der tibetische Buddhismus

Es ist der erste Samstag meiner Urlaubswoche. Im Terminal 3 des riesigen Flughafens – einer der größten weltweit – versammelt sich gefühlt ganz Beijing. Alle Schalter sind offen und werden im Dauerbetrieb belagert. Ganz dreiste Reisende drängeln sich mit einer »Ich habe es eilig, sonst verpasse ich den Flieger«-Miene immer wieder von der Seite direkt an den Schalter vor. Der chinesische Reisende erduldet gewöhnlich dieses Spiel, doch heute platzt auch den Langmütigsten irgendwann der Kragen. Robust werden die Drängler vom Schalter weggeschoben.

Air China bringt mich sicher zum Transferflughafen in die Metropole Chengdu, wo ich meine Gruppe aus Shanghai treffen werde. Der Austausch von Informationen – »Wo bin ich? Wo soll ich hinkommen?« – läuft augenblicklich via WeChat. Damit finden wir problemlos zueinander. {Weiterlesen im Buch, Seite 123}

Nach einem unruhigen Flug mit Turbulenzen und einigen Minuten des Festkrallens am Sitz erreichen wir Lhasa, die Hauptstadt der Provinz Tibet. Der Flughafen Lhasa-Gonggar liegt fünfzig Kilometer außerhalb auf einem Gebirgsplateau in 3700 Metern Höhe. Er gehört zu den Flughäfen, die weltweit am schwierigsten anzufliegen sind. Deshalb steuern ihn nur zwei Fluggesellschaften an.

Der Airport in Lhasa-Gonggar in der tibetischen Hochebene auf einem Gebirgsplateau ist einer der am schwierigsten anzufliegende Flughäfen weltweit (WC, Dennis Jarvis).

Beim Aussteigen bin ich gespannt, wie mein Kreislauf auf den plötzlichen Druckabfall reagiert, doch ich spüre nichts Außergewöhnliches. Es ist sehr heiß, und die UV-Strahlendosis ist sehr, sehr hoch. Jedes noch so kleine Fleckchen Schatten ist daher willkommen.

Ein Kleinbus bringt die Gruppe nach Lhasa, ein Reiseleiter begleitet uns. Der ist zwingend erforderlich und wird über einen lizenzierten chinesischen Reiseveranstalter zugewiesen. In unserem Fall ist es Frau Lhamo, sie hat denselben Namen wie die tibetische Göttin, die unter anderem den Dalai Lama und die Lehren Buddhas beschützt. Lhamo überreicht jedem in der Gruppe einen Begrüßungsschal aus weißer Seide zum Zeichen des Glücks und des Glaubens an einen guten Reiseverlauf. Die junge Frau Ende zwanzig weiß mit ihrer offenen und kommunikativen Art sofort die Mitreisenden zu begeistern. Als Englisch sprechende Reiseleiterin passt sie nicht in das traditionelle tibetische Frauenbild, und sie ist noch unverheiratet, wie sie später berichtet. Dabei werden die Ehen hier meist mit Anfang zwanzig geschlossen, eingefädelt und arrangiert durch die Eltern.

Auf der Fahrt nach Lhasa ist die Handschrift der chinesischen Regierung in der fernen Hauptstadt deutlich zu erkennen. Die Straßen befinden sich in einem ausgezeichneten Zustand, überall sind Strommasten und Leitungen zu sehen, die jeden noch so entlegenen Ort im Hochland mit Energie versorgen.

Lhasa selbst wirkt auf den ersten Blick wie eine typische chinesische Stadt mit Wohnanlagen wie vom Reißbrett, neuen großen Verwaltungsgebäuden, Kasernen, Restaurants und vielen Läden mit bunten Leuchtreklamen. Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung hier sind Han-Chinesen. Meine Gedanken schweifen ab, und ich kann kaum glauben, dass Tibet eine so lange und bewegte Geschichte hat, die archäologischen Funden zufolge bereits vor über zehntausend Jahren begann. {Weiterlesen im Buch, Seite 124}

Nach dem Einchecken in dem zentrumsnahen Hotel Lhasa Yak in der Beijing East Road, das einen Drei-Sterne-Service zu bieten hat, geht es zum ersten Streifzug in die Altstadt. Ein wunderschöner Abendhimmel in wechselnden dunklen Farbtönen, Licht, Geräusche und Gerüche sorgen für ein eigentümliches märchenhaftes Flair. Und plötzlich, mitten in der Bewegung, verspüre ich das erste Mal den Effekt der Höhenluft. Fein dosierte kleine Schläge lassen meinen Kopf brummen. Ich habe das Gefühl, beim Gehen fast die Kontrolle zu verlieren. Jeder Schritt in der dünnen Luft auf 3600 Metern über dem Meeresspiegel fällt doppelt schwer.

Das Hotel Lhasa Yak in der Beijing East Road im chinesischen Stil erwartet seine Gäste aus dem In- und Ausland (WC, Gerd Eichmann).

Aber ich schaffe es, mit den anderen Mitgliedern der Reisegruppe wie verabredet bis zu dem Restaurant am Jokhang-Tempel. Der Tempel ist Tibets Nationalheiligtum und macht Lhasa für Buddhisten so einzigartig. Die Pilger lassen sich beim obligatorischen dreimaligen Umrunden der großen Tempelanlage alle zwei Schritte auf den Boden fallen, rutschen eine Körperlänge nach vorn und liegen erneut auf dem Boden, um sich so vor einer schlechten Wiedergeburt zu schützen. Für mich ist das normale Gehen an diesem Abend schon anstrengend genug. Die Reiseleiterin Lhamo ist auf solche Situationen vorbereitet und rät zum Ausruhen, zu leichtem Essen und zum Verzicht auf alkoholische Getränke. Sie verabreicht mir Tabletten made in Tibet. Ein Naturpräparat, wie sie mir augenzwinkernd versichert.

Die Altstadt von Lhasa an der Barkhor-Strasse um den Jokhang-Tempel im farbenfrohen Dämmerlicht.

Im Lauf der Nacht akklimatisiert sich mein Körper schon etwas, sodass ich am nächsten Morgen mit der Gruppe zum Potala aufbrechen kann. Der prächtige Palast geht auf das Jahr 637 zurück, als der König aus der Dynastie der Yarlung oder auch Tubo auf dem 3700 Meter hohen Roten Berg den ersten Bau als Geschenk für seine chinesische Ehefrau errichten ließ. Nach dem Untergang dieses tibetischen Königreichs wurde der erste Palast größtenteils zerstört. Im siebzehnten Jahrhundert ließ der fünfte Dalai Lama auf den Fundamenten einen viel größeren Tempel erbauen. Der steinerne Koloss ist die wichtigste Sehenswürdigkeit im ganzen Land. Ein gigantisches Bauwerk in Weiß und Rot. Mit seinen dreizehn Stockwerken kommt es auf eine stolze Höhe von hundertdreißig Metern, die Mauern sind bis zu fünf Meter stark. In den weißen Gebäudeteilen fand das politische und das Alltagsleben statt. Der von außen rot angestrichene Palastkomplex war ausschließlich den religiösen Zeremonien vorbehalten. Bis zu seiner Flucht nach Indien 1959 residierte hier der Dalai Lama.

Ein Blick auf den Potala Palast vom Jokhang Tempel (WC, Garry Todd).

Sechzig Jahre später dürfen etwa zweitausend Touristen am Tag die für Besucher freigegebenen Räume der insgesamt 999 Zimmer des Weltkulturerbes besichtigen. Jede Bewegung im Inneren des Palasts wird mit Kameras und Richtmikrofonen registriert und dokumentiert. Für die zugelassenen Besuchergruppen gibt es beim kontrollierten Einlass in den Vorhof des Palasts einen vorher definierten Zeitpunkt. Dann heißt es wieder warten, um mit einem neu zu beantragenden Termin Zutritt zu den eigentlichen Palasträumen zu bekommen. {Weiterlesen im Buch, Seite 126}

Als wir die oberste Etage des Palasts erreicht haben, flüstert unsere Reiseleiterin Lhamo nur noch ehrfürchtig und sichtlich ergriffen. Auch für sie ist es immer etwas Besonderes, die Privatgemächer des noch amtierenden vierzehnten Dalai Lama zu betreten und seinen Thron zu besichtigen. Statuen, schwere dunkle Wandteppiche, Ornamente, Kerzen und Gebetstexte verleihen dem Raum eine würdevolle Atmosphäre. Wir sind jetzt im höchsten Heiligtum des tibetischen Buddhismus angekommen, dem Sitz des im indischen Exil lebenden weltlichen und religiösen Oberhaupts der Tibeter. In den Dreißigerjahren wurde er der Tradition entsprechend als dreijähriges Kind zur Inkarnation des dreizehnten Dalai Lama und damit zu dessen Nachfolger auserkoren.

Die nächsten Schritte führen uns hinauf auf das Dach des Potala-Palasts. Zum Glück haben die tibetischen Naturpräparate bei mir gewirkt, sodass ich die Blicke von hier oben ohne Höhenprobleme genießen kann. {Weiterlesen im Buch, Seite 127}

Nach dem Intensivkurs Buddhismus besuchen wir den Jokhang-Tempel. Auch hier erwarten uns Sicherheitskontrollen und Überwachungskameras, außerdem der tibetische Buddhismus mit seinen über hundert Göttern in voller Ausprägung. Da die männlichen Tibeter offiziell wie in China üblich nur bis zum sechzigsten Geburtstag arbeiten, die Frauen bis zum Alter von fünfundfünfzig, bleibt ihnen allen viel Zeit, um sich ihrem religiösen Tagwerk zu widmen. Eine Stunde pro Tag, um all die Rituale mit und um die Gebetsmühlen herum zu bedienen, ist dabei das absolute Minimum.

Die Betenden am Eingang zum Jokhang-Tempel prägen das Bild der Altstadt von Lhasa (WC, fairlybuoyant).

Durch eine von tiefroten Säulen getragene Gebetshalle gelange ich ins Innere des Tempels aus dem siebten Jahrhundert. Das Gebäude diente ursprünglich als Schrein für eine Buddhastatue, die jene chinesische Prinzessin mit nach Lhasa brachte, für die der Potala-Palast erbaut wurde. Die Prinzessin erhielt vom chinesischen Kaiser einen ganzen Hofstaat, Musikanten, Hofdamen und buddhistische Mönche für ihr neues Leben in Tibet. Chinesische Historiker sehen darin heute noch einen Beweis für die damalige Abhängigkeit Tibets von China. Aus tibetischer Sicht war die Prinzessin jedoch nur eine von mehreren Frauen des Königs und die Heirat Ausdruck der guten außenpolitischen Beziehungen zu jener Zeit.

In der zentralen Halle des Tempels kann ich die vergoldete, mit Brokat und Seidenschleifen geschmückte Statue des Buddhas bewundern, die den Erwachten in voller Lebensgröße sitzend als Zwölfjährigen darstellt. Mit Juwelen aufwendig verziert ist es das edelste und zugleich älteste Objekt, das die Prinzessin aus ihrer Heimat hierher transportieren ließ.

Im Inneren des Jokhang-Tempels als eines der grössten Heiligtümer Tibets (WC, (o.) Garry Todd, (u.) Andrew & Annemarie).

Vom Dach des Jokhang-Tempels bietet sich mir eine großartige Aussicht auf den Vorplatz mit den vielen Pilgern und natürlich hinauf zum Potala, der als Wahrzeichen Lhasas von fast jedem Punkt in der Stadt zu sehen ist. Das Dach selbst ist mit vergoldeten Bronzeziegeln gedeckt, es trägt Vögel, Ungeheuer, Glocken und Symbole wie das Rad des Lebens. Tibet ist überaus reich an Bodenschätzen, die schon im Altertum genutzt wurden. Heutzutage bilden die Vorkommen unter anderem an Gold und Erzen eine wichtige Ressource, um die ehrgeizigen Ziele der staatlichen Planwirtschaft zu erfüllen.

Mein Blick geht wieder hinunter auf die Menschenmenge, die ständig in Bewegung ist. Um die Tempelanlage herum verläuft die Barkhor-Straße, der etwa achthundert Meter lange Rundweg. Pilger gehen ihn mit ihren Gebetsmühlen im Uhrzeigersinn entlang und murmeln vor sich hin, besonders häufig das Mantra »Om mani padme hum«. Die besonders Gläubigen werfen sich in regelmäßigen Abständen flach auf den Boden, stehen auf, machen ein paar Schritte, legen sich wieder hin und immer so fort. Die Anzahl der rituellen Umrundungen entspricht dem jeweiligen Alter der Pilger.

Vertieft im Gebet beim Umrunden des Jokhang-Tempels (WC, Lucca. Galuzz).

Mittendrin sehe ich auch chinesische Soldaten in kleinen Gruppen. Der letzte Soldat einer Zehnergruppe trägt immer einen Feuerlöscher in der Hand, sagt Lhamo, wegen der Selbstverbrennungen. Seit den ersten Unruhen in der tibetischen Hauptstadt vor mehr als zehn Jahren hat es diese verzweifelte Form des Widerstands häufig gegeben. Viele Tibeter sehen darin den einzig möglichen Protest, um für die Freiheit Tibets und die Rückkehr des Dalai Lama zu kämpfen.

Das gesamte Gebiet um den Jokhang-Tempel befindet sich permanent unter der Kontrolle der Polizei (WC, Göran Höglund).

Nach dem Besuch des Jokhang-Tempels sind wir beim Onkel unserer Reiseleiterin eingeladen. Er wohnt mit seiner Frau und den zwei Söhnen in einem Neubauviertel am Stadtrand. Die älteren, zumeist zweistöckigen Wohnhäuser in der Altstadt von Lhasa haben vorwiegend Wände aus aufeinandergeschichteten Steinblöcken und sehen wie Wehrtürme mit flachen Dächern aus. In einem solchen Haus wohnen oft mehrere, manchmal sogar Dutzende Familien.

Unser Bus hält vor einem tristen fünfstöckigen Plattenbau. Als wir die Familie am Nachmittag überfallen, quetschen sich dreiundzwanzig müde Ausländer in die Drei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock, um auf sechzig Quadratmetern bei Lhasa-Bier und Yakbuttertee die einheimische Lebensart besser verstehen zu lernen. Die Familie hat im Wohnzimmer reichlich tibetische Leckereien aufgetischt. {Weiterlesen im Buch, Seite 130}

Auch der nächste Tag steht ganz im Zeichen des Buddhismus. Früh am Morgen verlassen wir unser Hotel und fahren mit dem Bus zum Kloster Drepung etwa zehn Kilometer nordwestlich von Lhasa. Es liegt am Fuß des Bergs Gambo Utse, eingerahmt von einer fantastischen Bergwelt, in einem ruhigen Vorort der Stadt. Der Name bedeutet auf Tibetisch so viel wie »Reissammler«, weil die weiße Klosteranlage im klassischen tibetischen Stil aus der Ferne betrachtet einem Berg Reis ähnelt.

Das Kloster Dreprung liegt eingebettet zwischen Bergen ihn einem Vorort von Lhasa (WC, Maris Burbergs).

Drepung besteht seit 1416. Der Begründer war ein Vertreter des Gelug-Ordens, der jüngsten und bis heute bedeutendsten buddhistischen Schule. Es gehört zu den »drei großen Klöstern« von Tibet, zusammen mit Ganden und Sera . Sera wollen wir am Nachmittag besichtigen.

Bis 1930 war Drepung die größte Klosterstadt der Welt, hier lebten zwischen siebentausend und zehntausend Mönche aus verschiedenen Ländern. Zu den Besitztümern gehörten hundertsechsundachtzig Landgüter und dreihundert Weidegebiete, die von zwanzigtausend Leibeigenen und sechzehntausend Hirten bewirtschaftet wurden. Heute gibt es nur noch knapp sechshundert Mönche, die in den sieben Colleges etwas über Abstammung, Religion und Geografie lernen. {Weiterlesen im Buch, Seite 132}

Glücklicherweise überstand das Kloster die chinesische Kulturrevolution in den Sechzigerjahren unbeschadet, im Gegensatz zu vielen anderen religiösen Bauwerken und Denkmälern, sodass wir bei unserem Besuch die Hauptattraktionen besichtigen können. Dazu gehört für mich die reich ausgemalte Hauptversammlungshalle in der Mitte der Anlage, die schon durch ihre Größe von fast zweitausend Quadratmetern beeindruckt. Ihre Sutrahalle wird von hundertdreiundachtzig Säulen gestützt.

Zum Kloster gehört auch der Ganden-Phodrang-Palast im südwestlichen Bereich des Areals, in dem bis zum fünften Dalai Lama das tibetische Oberhaupt residierte, bevor der Potala-Palast Regierungssitz wurde. {Weiterlesen im Buch, Seite 132}

Am Nachmittag steht der Besuch des Klosters Sera an, etwa drei Kilometer nördlich von Lhasa. Sera erhielt seinen Namen, der Wildrose bedeutet, nach dem ehemals mit Rosen bedeckten Hügel, auf dem es 1419 erbaut wurde. Das Kloster verdankt seine Gründung wie Drepung einem frühen Vertreter des Gelug-Ordens. Während der Kulturrevolution wurde ein großer Teil der Anlage zerstört, später aber wiederaufgebaut und unter Denkmalschutz gestellt. Sera gewann seine einstige Pracht und spirituelle Bedeutung in Tibet zurück. Bis zum Tibetaufstand gegen die Chinesen im Jahr 1959 waren bis zu zehntausend Mönche hier untergebracht. Sogar eine eigene Klosterpolizei hat es in dieser Zeit gegeben, um die Einhaltung der Ordensregeln zu überwachen. Heute leben hier noch etwa fünfhundert Mönche.

Das Kloster Sera als eines der Grossen Klöster des Gelug-Ordens (WC, (o.) Hiroki Ogawa, (u.) Pavel Spindler)

Umgeben von den direkt angrenzenden Bergen liegt der Klosterkomplex mit seinen weißen, etwas in die Jahre gekommenen Mauern auf 4000 Metern Höhe. Nach dem Passieren der großen Eingangspforte schlendern wir auf dem Gelände umher und fotografieren Motive, die wir ähnlich auch in den anderen tibetischen Klöstern mit ihrer wunderschönen Architektur, den Statuen, bunten Fresken und großflächigen Felsmalereien gesehen haben.

Auf einem Hügel im Nordostteil der Anlage befindet sich die von über hundert Säulen gestützte vierstöckige Hauptversammlungshalle. In diesem mehr als zweitausend Quadratmeter großen Gebäude mit den fünf Kapellen werden das ganze Jahr über verschiedene Rituale abgehalten.

Doch nicht diese gewaltige Halle ist der Höhepunkt unseres Klosterbesuchs. Mich beeindruckt am meisten, dass ich im schattigen Innenhof der Fakultät hautnah erleben kann, wie sich die Mönche in buddhistischen Debatten üben. {Weiterlesen im Buch, Seite 134}

Die Mönche im Kloster Sera in Lhasa verlieren sich in den täglichen Debatten über den Buddhismus und das Leben (WC, Gerd Eichmann).

Dass der tibetische Buddhismus mit den unterschiedlichen Schulen und Richtungen in vielerlei Hinsicht sehr komplex sein muss, ist für mich auch daran erkennbar, dass die höchste akademische Auszeichnung mit dem Geshe-Titel eines vorangehenden zwanzigjährigen Studiums bedarf. Bestimmt werden nicht alle der momentan im Kloster Sera lebenden Mönche diese Weihe erhalten.

Hinter dem Kloster liegt der einzige Platz in Lhasa, an dem noch die traditionellen Himmelsbestattungen stattfinden dürfen, wie uns Lhamo erklärt. Diese Art der Bestattung ist auf den Mangel an Brennholz für Leichenverbrennungen zurückzuführen sowie auf den im Winter gefrorenen Boden und den felsigen Untergrund in der Region, der ein Begräbnis unmöglich macht. Auch heute noch werden in Tibet regelmäßig Himmelsbestattungen durchgeführt, obwohl die chinesischen Behörden versuchen, dies mit drastischen Strafen zu unterbinden. Es ist ein grausiges Szenario, wie wir aus Lhamos Ausführungen erfahren und anhand der Fotos, die sie uns vom Ablauf der Zeremonie zeigt, ermessen können. {Weiterlesen im Buch, Seite 135}

Zurück in Lhasa treffen wir uns zum Abendessen im Stadtzentrum in dem tibetischen Restaurant Phin Tsok De Don, in dem auch die Einheimischen einkehren. Auf der Speisekarte stehen für mich exotisch klingende Namen von Gerichten wie gedämpften, mit Kartoffeln gefüllten Brötchen, gekochten Hammelkoteletts, gedämpfter Ochsenzunge und gebratener Lunge vom Schaf. Nach den Geschichten über die Himmelsbestattung steht mir jedoch der Sinn nach einem etwas leichteren Menü, sodass ich mich an den in Butter gekochten Ginseng halte, was sich als sehr gute Wahl erweist. Der dazu gereichte Gerstenwein verleiht mir die nötige Bettschwere für einen Schlaf ohne heilige Geier, die an meinen Eingeweiden knabbern.

Pässe, Seen, Festungen

Am nächsten Morgen heißt es zeitig aufstehen, denn heute beginnt die etwa vierhundert Kilometer lange Fahrt nach Westen über die tibetische Hochebene. Beim Packen der Reisetasche öffne ich die Fenster in meinem Hotelzimmer und erfreue mich am wunderschönen Morgenhimmel über Lhasa. Die kalte klare Hochgebirgsluft tut gut und hilft mir, schnell in die Gänge zu kommen.

Ein letztes Mal gibt es das für mich nun schon gewohnte chinesische Frühstück, da der Koch Chinese ist und das Hotel sich auf die Gewohnheiten der Touristen aus den östlichen Provinzen eingerichtet hat. Es ist von Region zu Region unterschiedlich, es muss jedoch immer warm sein. In China essen die Menschen zum Frühstück gern eine süße oder salzige Reissuppe, manchmal auch Eier-, Rindfleisch- oder Nudelsuppe. Fehlen dürfen niemals die gedünsteten Teigtaschen Bao Zi, deren Füllung zumeist aus Fleisch, Eiern oder Gemüse besteht. Beliebt sind auch in Tee gekochte Eier sowie You Tiao, kleine frittierte Teigstangen. Zu meiner Erleichterung gibt es hier nicht den zuckersüßen Instantkaffee, wie ich ihn aus einfachen Hotels kenne.

Bevor wir Lhasa in unserem Kleinbus verlassen, halten wir an einer Apotheke, um uns mit »Healthy Oxygen« einzudecken. Das ist medizinisch reiner Sauerstoff in Spraydosen, der gegen die Höhenkrankheit hilft. Eine Dose wiegt etwa hundertfünfzig Gramm und kostet umgerechnet knapp drei Euro. Laut Bedienungsanleitung wird zuerst die mitgelieferte Kunststoffkappe im Notfall über Nase und Mund gestülpt, dann das Ventil gedrückt, sodass der Sauerstoff in den Körper gelangt. Tibeter haben keine Probleme mit der Höhe, ihr Körper ist optimal angepasst; außerdem sorgt bei ihnen ein spezifischer DNA-Abschnitt dafür, dass sich Sauerstoffmangel nicht negativ auswirkt.

Wir verlassen Lhasa auf der Landstraße, immer entlang des gleichnamigen Flusses, der auf Tibetisch »Fluss des Glücks« heißt. Erst 1989 hat der Bremer Geologe Dieter Ortlam die Quelle des breiten Lhasa-Flusses an einem Gletschertor im tibetischen Hochland entdeckt. Wie uns Lhamo erklärt, verwandelt sich der Fluss nahe der Stadt in einen drei Kilometer langen See als Ergebnis eines nachhaltigen Wasserschutzprojekts. Aus religiösen Gründen ist es den Tibetern jedoch verboten, in Seen und Flüssen zu baden oder zu fischen, da die Gewässer für sie heilig sind.

Die Fahrt von Lhasa nach Westen beginnt am Fluss des Glücks (WC, goemaix).

Überhaupt wurde in den letzten Jahren viel in dieser Gegend investiert, nicht nur in die Infrastruktur. Bei der Fahrt durch die Dörfer auf der perfekt asphaltierten Hochgebirgsstraße sind die Reihen neu gebauter Häuser im tibetischen Stil am Straßenrand nicht zu übersehen. Auf vielen Dächern der kleinen einstöckigen Gehöfte weht die chinesische Nationalflagge. Die Mehrzahl der Gebäude ist aber noch unbewohnt und wartet auf die ersten Mieter. Die einfachen alten Behausungen der tibetischen Bauern stehen im Hintergrund und scheinen so gar nicht mehr in das Gesamtbild von gepflegten, wohlhabenden Dörfern in einer schönen Umwelt zu passen.

Am Ende des Tals fahren wir südwärts die Serpentinen zum Khampa-La-Pass hinauf. An jeder Kurve bieten sich neue atemberaubende Blicke hinab ins Tal und auf die Berge, die so nah wirken. Die Sonne steht am blauen Himmel, über den nur einzelne Wolken im Zeitlupentempo ziehen und dabei einen flüchtigen Schatten auf die Bergspitzen und Hänge werfen. Unser Busfahrer weicht an den Engstellen artistisch geschickt den entgegenkommenden Schwertransportern mit Baumaterialien aus.

Auf halber Strecke halten wir an einer Aussichtsplattform, die mit vielen tibetischen Gebetsfahnen geschmückt ist. Abwechselnd in Blau, Weiß, Rot, Grün und Gelb stehen sie symbolisch für die fünf Elemente Himmel, Wolken, Feuer, Wasser und Erde. Sie tragen Gebete und Mantras für Frieden, Glück und Weisheit, die der Wind in alle Himmelsrichtungen wehen soll.

Oben am Parkplatz des Khampa-La-Passes in fast 4800 Metern Höhe machen wir eine Pause. Es hat den Anschein, als würden zusammen mit unserem kleinen Häuflein gleichzeitig alle anderen Touristen aus den wenigen Reisebussen stürmen. {Weiterlesen im Buch, Seite 138}

Der obere Parkplatz des Khama-La-Passes bietet einen traumhaften Blick auf den See Yamdrok.

Unsere Fahrt geht weiter hinab zum heiligen See Yamdrok, hinter dem sich der Gipfel des Siebentausenders Nazin Kang Sa durch ein weißes Wolkenband am Horizont schiebt. Ein wahrhaft erhebender Anblick. Für Gläubige ist der See das Erscheinungsbild einer Göttin. Der Form nach erinnert er an einen Skorpion, und sein türkisfarbenes Wasser soll das schönste der Welt sein.

Ein in sich ruhender Yak als Fotomotiv für die ankommenden Touristen für ein gelungenes Erinnerungsfoto am See Yamdrok (WC, Laika).

Als größtes Gewässer Tibets – mit einer Fläche von knapp sechshundertvierzig Quadratkilometern etwa hundert Quadratkilometer größer als der Bodensee – liegt der Yamdrok-See auf einer Höhe von 4441 Metern. Seit den 1980er-Jahren wird hier das höchstgelegene Pumpspeicherwerk der Welt betrieben, bei dem ein Wassergefälle von gut 800 Metern die Turbinen antreibt. Auch das ein Superlativ. Allerdings hat das Kraftwerk, das zur Deckung des Strombedarfs von Lhasa genutzt wird, seine Kehrseiten. Mit dem Betrieb der An- lage wurde der Wasserspiegel des Sees abgesenkt, leicht zu erkennen an dem breiten Streifen verkrusteter Salze am Uferrand. Es braucht nicht viel Fantasie, sich die negativen Effekte für das empfindliche Ökosystem in dieser Höhe vorzustellen.

Unsere Weiterfahrt verläuft entlang des Ufers des Yamdrok-Sees und hoch hinauf zum Karo-La-Pass im nördlichen Himalaya. Die schnurgerade, durchgehend mindestens zweispurige Straße ist Teil der alten Route des Southern Friendship Highway. Mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Sechs- und Siebentausender ist sie der landschaftlich reizvollere Weg nach Westen, den auch die meisten tibetischen Pilger bevorzugen. Der zweite mögliche Weg in Richtung Nepal ist der nördliche Friendship Highway als Teil der chinesischen Nationalstraße G318, die von Shanghai über Lhasa direkt bis zur nepalesischen Grenze führt, wo sie nach 5476 Kilometern als längste Straße Chinas endet. Diese Nationalstraße ist mit einem ähnlichen Mythos behaftet wie die legendäre Route 66, der Trans-Canada Highway oder der australische Highway 1, der mit 14 500 Kilometern ein dreimal so langes Easy-Rider-Gefühl wie die G318 garantiert.

Als wir die Passhöhe des Karo La erreichen, auf etwas mehr als 5000 Metern, halten wir wieder am Parkplatz. Natürlich flattern auch hier die bunten Gebetsfahnen unaufhörlich im Wind, sie sind mit Schnüren an einem tibetischen Stupa festgebunden. Diese Kultbauten symbolisieren Buddha und seine Lehre. Sie sollen vor negativen Einflüssen schützen und werden am Eingang zu einem Tal, einer Ortschaft oder wie hier auf hohen Gebirgspässen errichtet.

Die Blicke auf den Karo-La-Gletscher im Spiel der Farben von Himmel, Wolken und Wasser in dieser unglaublichen Landschaft sind unvergesslich, wenn auch das ewige Eis, dreihundert Meter von der Straße entfernt, schon einige Meter abgeschmolzen ist. Kein anderer Gletscher in Tibet lässt sich besser von einer Straße aus beobachten.

Das Gletschereis liegt in direkter Nähe von dem beeindruckenden Karo-La-Pass in fünftausend Meter Höhe (WC, Gerd Eichmann).

Nach der kurzen Rast geht es die Passstraße bergab in Richtung der Stadt Gyantse. Unterwegs halten wir zur Mittagszeit am Straßenrand vor einem einfachen Lokal, das als solches wohl nur für Eingeweihte auszumachen ist. Doch unsere tibetische Reiseleiterin kennt sich bestens aus. In Windeseile werden jede Menge Schüsseln mit tibetischen Gerichten auf die runden Tische gestellt, an die wir uns gesetzt haben. {Weiterlesen im Buch, Seite 141}

Zeit für einen Stopp in Gyantse bleibt nicht. Dabei hat die viertgrößte Stadt des Landes einige Sehenswürdigkeiten zu bieten, die etwas vom Mythos und vom Zauber des alten Tibets vermitteln. An dem einst wichtigsten Umschlagplatz für den Wollhandel mit In- dien steht in der Klosteranlage Pelkhor Chöde der Kumbum Stupa, ein architektonisches Meisterwerk aus den Anfängen des fünfzehnten Jahrhunderts. Die achteckige Stufenpyramide mit ihren neun Ebenen ist fünfunddreißig Meter hoch, beherbergt hundertacht Kapellen und wird durch eine goldene Kuppel gekrönt.

Nahe der Klosteranlage erhebt sich die schon von Weitem sichtbare Festung Gyantse. Diese einzige noch erhaltene Befestigungsanlage Tibets entstand mit ihren wesentlichen Bauten im vierzehnten Jahrhundert. {Weiterlesen im Buch, Seite 141}

Die Festung von Gyantse als Mahnmal des Widerstands der Tibeter gegen die britischen Aggressoren Anfang des 20. Jahrhunderts (WC, Gerd Eichmann).

Knapp zwei Stunden später erreichen wir unser Tagesziel Shigatse. Die zweitgrößte Stadt Tibets mit einer über fünfhundertjährigen Geschichte liegt auf 3800 Metern Höhe. Sie ist das religiöse Zentrum im Osten Tibets, daher befinden sich hier und in der Umgebung mehrere Klöster.

Ein einzigartiger Blick auf die Silhouette von Shigatse als zweitgrößte Stadt Tibets (WC, 钉钉).

Direkt nach unserer Ankunft fahren wir in das Kloster Tashi Lhunpo, das auch der traditionelle Sitz des Panchen Lama war, der höchsten geistlichen Autorität für die Tibeter nach dem Dalai Lama. Aufgrund seiner Bedeutung wurde das Kloster im Lauf der Zeit mehrfach erweitert. Jetzt am Nachmittag fällt mir besonders die friedliche Atmosphäre auf. In den Innenräumen sind viele der rotgewandeten Mönche mit ihrem Tagwerk beschäftigt. Wir besichtigen den Maitreyatempel mit dem goldenen Dach, der mir als das höchste Gebäude sofort aufgefallen ist. Beim Betreten der Halle wird mir auch der Grund für seine Ausmaße klar. In der Mitte sitzt eine sechsundzwanzig Meter hohe Buddhastatue, die aus zweihundertfünfzig Kilogramm Gold und mehr als hundert Tonnen Kupfer und Messing hergestellt wurde. Über hundert Gold- und Kupferschmiede, Maler und Bildhauer aus Tibet und Nepal waren beschäftigt, um dieses einzigartige Werk zu vollenden. Es passt zu dem tibetischen Namen des Klosters, der so viel bedeutet wie »Aller Reichtum und Glück mögen hier versammelt sein«.

Das Kloster Tashi Lhunpo gehört zu den wichtigsten Zentren des tibetischen Buddhismus (WC, Gerd Eichmann).

Die Anlage lässt sich am besten erkunden auf dem Weg hinauf zur großen Besichtigungsplattform, vorbei an den Stupas, den Gebetsmühlen, die wir unaufhörlich drehen, und den Hallen mit den reich geschmückten Grabstupas der Panchen Lama, die zu den wertvollsten Grabmälern in ganz China gehören. Von diesem Ort aus eröffnet sich mir ein fantastischer Blick auf Shigatse mit der über der Stadt thronenden Festung. Hier regierten noch bis Mitte des siebzehnten Jahrhunderts tibetische Könige, die Lhasa und große Teile des Landes beherrschten. Der nachfolgende Herrscher, der mithilfe der Mongolen eingesetzte Dalai Lama, residierte dann in Lhasa, wo später der weltbekannte Palast errichtet wurde, offenbar nach dem Vorbild Shigatses. {Weiterlesen im Buch, Seite 143}

Einer der Pilgerwege im Kloster Tashi Lhunpo lädt ein, um zur inneren Ruhe zu kommen.

Nach dieser ausgiebigen Klostertour genießen wir am Abend im Hotel das tibetische Essen, das natürlich wieder mit einer Variation von Yakfleisch serviert wird. Auf knapp viertausend Höhenmetern ist in der Herberge sogar eine Sauerstoffbar in einem eigenen Raum integriert, in dem sich die Touristen an mehreren Maskenstationen auf die kommenden Etappen in noch wesentlich höhere Regionen Tibets vorbereiten können.

Der nächste Tag beginnt in der Morgendämmerung mit einem Farbenspiel intensiver Rottöne. Die Fahrt auf dem Friendship Highway geht weiter westwärts entlang des Flusses Yarlung Zangbo, der Oberlauf des Brahmaputras. Dieser ist mit über dreitausend Kilometern Länge der bedeutendste und wasserreichste Strom Asiens. Er entspringt am Mount Kailash und durchquert bis zum Zusammenfluss mit dem Ganges Gebiete in China, Indien und Bangladesch. {Weiterlesen im Buch, Seite 143}

Einer dieser wunderschönen Morgen im Licht der aufgehenden Sonne, unterwegs auf der Nationalstrasse G318, dem Friendship Highway.

Zum Everest Base Camp

Der Yarlung Zangbo liegt bereits weit hinter uns. Auf dem Friendship Highway fahren wir durch wenig abwechslungsreiches Gebiet nach Südwesten. Unser Fahrer kennt sich offenbar bestens aus. An einer Baustelle verlässt er die asphaltierte Straße und biegt auf einen ausgefahrenen Weg in einer Mondlandschaft mit riesigen Sanddünen ab. Lässig, mit einer Hand am Lenkrad, fährt er den Bus durch unwegsames Gelände, und das Gefährt wird immer wieder kräftig durchgeschüttelt, sodass wir uns festhalten müssen, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu knallen. Von Weitem schon sehen wir inmitten des Nichts eine kleinere Ansammlung von Häusern, auf die der Wüstenweg geradewegs zuläuft. Direkt vor einem der Häuser kommt ein tibetischer Bauer auf uns zu, und der Busfahrer überreicht ihm ein Bündel an vorher abgezählten Geldscheinen für die Passage.

Der längste Fluss Tibets, der Yarlung Zangbo mit seinem weitläufigen Flussdelta, verläuft direkt neben dem Friendship Highway auf der Fahrt zum Mount Everest (WC, B_cool)

Das Wetter ist gut, und wir freuen uns auf den Höhepunkt unserer Tour: das Mount Everest Base Camp. Auf Tibetisch heißt der Berg Chomolungma, die Mutter des Universums, daher wird das nördliche Basislager auch Chomolungma-Basislager genannt. Es liegt noch etwa neunzig Kilometer abseits des Friendship Highways. Wir biegen von der Wüstenpiste nach Süden ab und gelangen bald darauf zum Eingang des Chomolungma-Nationalparks. Nachdem wir die notwendigen Gebühren bezahlt haben, bekommen wir die erforderlichen Dokumente für den Eintritt in das höchstgelegene Naturreservat der Welt.

Unterwegs werden wir an mehreren gut ausgebauten Kontrollposten angehalten, die an Grenzübergänge erinnern. Davor bilden sich lange Schlangen von wartenden Autos, Bussen und Lastkraftwagen. Alles wird systematisch kontrolliert. Die Prozedur ist immer gleich: Unsere Reiseleiterin Lhamo sammelt die Pässe ein, steigt aus, geht in das Hauptgebäude. Minuten später kommt sie wieder heraus und gibt dem Busfahrer ein Zeichen, an der Warteschlange vorbeizufahren. Wie sie das regelt, wissen wir nicht, aber wir sind froh, schneller voranzukommen.

Den ersten Blick auf den höchsten Berg der Welt dürfen wir am Pang-La-Pass genießen, nachdem wir uns in etlichen Spitzkehren auf 5200 Meter Höhe geschraubt haben. Wie für zahlreiche Berge und Pässe in Tibet üblich, gibt es immer wieder unterschiedliche Angaben zur exakten Höhe. Aber das ist hier Nebensache. Vor uns breitet sich wie auf dem Panoramafoto in einem Bildband ein spektakuläres Gesamtbild aus: die vier in einer Reihe stehenden schneebedeckten Achttausender Makalu, Lhotse, Everest und Cho Oyu. {Weiterlesen im Buch, Seite 146}

Die Strasse hinauf zum Pang-La-Pass im Chomolungma-Nationalpark zur Mutter des Universums.

In den Abendstunden kommen wir zu einem Parkplatz, der sich gleich neben dem Rongbuk-Kloster befindet, dem höchstgelegenen Kloster der Welt. Es wurde 1902 gegründet, um Einsiedler zu versorgen, die schon seit dem achtzehnten Jahrhundert in dieser Region lebten und die Berggötter anbeteten. In seiner Blütezeit soll das Kloster bis zu fünfhundert Mönche und Nonnen beherbergt haben, heute sind es noch etwa dreißig. Aber auch die ersten Bergsteiger, die das Tal auf dem Weg zur Nordwand des Everest durchquerten, wurden hier mit Fleisch und Tee bewirtet sowie mit Gebeten begleitet. {Weiterlesen im Buch, Seite 147}

Ein einzigartiger Blick auf den Berg der Berge bietet sich bei guter Sicht vom Rongbuk-Kloster aus (WC, Oldmanisold).

Unrein, wie wir sind, nähern wir uns dennoch auf einer unbefestigten Straße dem heiligen Berg. Vom Kloster bis zum Mount Everest Base Camp an den Ausläufern des Rongpu-Gletschers sind es in südlicher Richtung talaufwärts noch einmal acht Kilometer, die wir mit unserem Bus zurücklegen. Die Temperaturen liegen gefühlt unter dem Gefrierpunkt, ich bin froh, dass ich die Thermounterwäsche angezogen habe. In der Dunkelheit, mit Stirnlampen ausgerüstet, erreichen wir unser Ziel, eine kleine Zeltstadt auf 5200 Metern Höhe. Es ist eines der berühmtesten Basislager weltweit und wurde erstmals 1924 von einer britischen Expedition benutzt, als die Bergsteiger das Rongbuk-Tal durchquerten, um den Mount Everest von Norden zu besteigen.

Professionelle Bergsteiger sind heutzutage nur noch im Advanced Base Camp anzutreffen, das 6300 Meter hoch am Fuß der vergletscherten Hochroute liegt und nur mit Sondergenehmigung zu erreichen ist. Von dort aus beginnen der Anstieg auf den 7000 Meter hohen Nordsattel und der weite Weg über mehrere Hochlager zum Gipfel.

Stattdessen beziehen wir unsere einfachen Nomadenzelte im unteren Lager, die für zehn Personen ausgelegt sind und von einheimischen Familien betrieben werden. Im Zelt gibt es ausreichend Schlafdecken, mit denen sich schon viele andere Besucher zugedeckt haben. Mich stört das nicht, da ich vorsorglich einen leichten Schlafsack für die Nacht mitgebracht habe. Vor den gemeinschaftlich genutzten Betten stehen kleine flache Holztische, auf denen Geschirr, Tassen und die wenigen persönlichen Dinge abgelegt werden können. {Weiterlesen im Buch, Seite 148}

Einblicke in die Zeltstadt des Mount Everest Base Camps (WC, (o.) Vinko Rajic, (u.) Mikael Häggström).

Da um Mitternacht im Everest Base Camp die Stromgeneratoren abgeschaltet werden und das Licht ausgeht, mache ich vorher noch eine Erkundungstour durchs Lager. Vor dem Eingang eines Zelts stehen Leute Schlange, die im höchstgelegenen Postamt der Welt Karten mit dem begehrten Stempel der China Post an Angehörige und Freunde versenden möchten. Ein Stück weiter südwärts erreiche ich die Stelle am Fuß des Everest, an der für Touristen Schluss ist. Von diesem Punkt aus dürfen nur Bergsteiger mit einer amtlichen Genehmigung weiterwandern. Wer sich darüber hinwegsetzt, zahlt mindestens zweihundert Dollar Strafe. Obwohl ich keine An- zeichen für eine Überwachung feststellen kann, bin ich sicher, dass die Grenzpolizei das Gelände im Blick hat. Kaum zu glauben, dass vor Jahren ein Tourist einer Reisegruppe von hier aus den Gipfel ohne offizielles Permit bestiegen haben soll.

An diesem markanten Platz steht ein zwei Meter hohes monolithisches Denkmal aus Granit, das in seiner Form dem Mount Everest ähnelt. In chinesischer, tibetischer und englischer Sprache trägt es die Aufschrift »Everest Height Survey Monument« und die Höhenmarke 5200. {Weiterlesen im Buch, Seite 149}

Die Höhenmarke im Mount Everest Basis Camp als Fotomotiv. Ein Weiterlaufen zum Gipfel ist nur mit einer behördlichen Genehmigung möglich.

Mittlerweile wird der höchste Gipfel der Erde zwar von vielen Abenteurern bezwungen, aber alle müssen vorher die gewaltigen Herausforderungen meistern, mit denen der Aufstieg verbunden ist, gerade auf der längeren, von Wind und Kälte ungeschützten Nordroute von Tibet aus. Die hohen Kosten für die gesamte Tour, die erforderlichen Kenntnisse beim Bergsteigen, die notwendige körperliche Ausdauer und Leidensfähigkeit − das sind nur einige der Beschränkungen, die den Traum für die meisten fast unrealisierbar machen. Als Trost für die Angereisten bleibt das Everest Base Camp, um den Berg in seiner vollen Schönheit zu bewundern. {Weiterlesen im Buch, Seite 149}

Die Nacht im Nomadenzelt des Base Camps ist kalt, obwohl wir in Decken eingehüllt und wie in einem Matratzenlager in den Berghütten der heimischen Alpen dicht an dicht nebeneinanderliegen. Aber so fällt es mir wenigstens nicht schwer, am nächsten Tag noch vor Sonnenaufgang aufzustehen. Die einheimischen Gastgeber haben schon den Ofen mit Yakdung bestückt und den Kessel mit dem fettigen Buttertee aufgesetzt. Unser tibetischer Busfahrer befragt nach dem Aufstehen als Erstes die Gottheiten, wann wir am Vormittag die Rückreise in Richtung Lhasa antreten sollen. Für uns bleibt aber noch genügend Zeit, um den Sonnenaufgang hautnah zu erleben.

Dick eingepackt stolpern wir aus den Zelten und suchen den Weg im Halbdunkel bergauf in Richtung Denkmal. Während es allmählich hell wird, leuchten prachtvolle rote Wolken am Himmel. Der Gipfel des Mount Everest färbt sich tieforange im Licht der aufgehenden Sonne. Ein großartiges Schauspiel, das ich mit meinen Weggefährten in der Stille des Himalayas minutenlang begeistert erlebe. Doch plötzlich wird die göttliche Ruhe durch hektisches Rufen unterbrochen.

Aufgeregt, mit den Armen wild gestikulierend, kommt ein chinesischer Tourist auf uns zugerannt. Ohne eine Pause zu machen, erzählt er in gebrochenem Englisch, dass etwa zweihundert Meter oberhalb von unserem Platz eine Frau aus unserer Reisegruppe zusammengebrochen sei. Zu viert folgen wir ihm eilig und finden die junge Frau am Boden liegend. Ihr Gesicht ist bleich, und die Lippen sind bereits bläulich verfärbt. Sie zittert am ganzen Körper und kann nur noch schwer atmen. Sofort führen wir ihr Sauerstoff aus den mitgebrachten Spraydosen zu. Eine Maßnahme, die schnell hilft. Wir sammeln ihre Fotoausrüstung ein und transportieren sie vorsichtig zurück ins Basislager. Ihre persönlichen Sachen werden schnell aus dem Zelt geholt und in den bereits wartenden Bus gebracht. Auf der Rückbank liegend wird sie in Decken gewickelt und bekommt eine Atemmaske aufgesetzt, die sie mit dem notwendigen Sauerstoff aus der mitgeführten großen Sauerstoffflasche versorgt. Das ist die einzige Möglichkeit, ihr in diesem Moment zu helfen, denn es gibt im Everest Base Camp weder Krankenstation noch Arzt. Nachdem der Bus losgefahren ist, bessert sich ihr Zustand mit abnehmender Höhe zusehends.

Ein letztes Mal schaue ich wehmütig aus dem Busfenster zurück zu Chomolungma, der Mutter des Universums. Die Gerüchte verdichten sich, dass die chinesischen Behörden das Basislager für gewöhnliche Touristen schließen wollen, weil der Ansturm zu groß wird . {Weiterlesen im Buch, Seite 151}

Von Göttern und Daten

Die Fahrt zurück nach Shigatse vergeht schnell, weil die Pausen für Fotostopps kürzer sind als bei der Hinfahrt. Müde, erschöpft und doch glücklich verbringen wir die Nacht in richtigen Hotelbetten. Am letzten Tag der Tour fahren wir auf dem nördlichen Teil des Friendship Highways, der kürzeren Route ohne Bergpässe, in das nun schon vertraute Lhasa und zum Yak-Hotel.

Der Friendship Highway zwischen den Orten Sakya und Shigatse (WC, Gerd Eichmann).

Der nächste Tag, unser letzter in Tibet, steht ganz im Zeichen der Erkundung des Götterorts, wie Lhasa auf Tibetisch heißt. Lhamo bringt uns am frühen Morgen zu einer tibetischen Kunstschule im Südwesten der Stadt. Sie selbst hat als Kind vier Jahre lang diese Schule besucht. Sie zeigt uns die Klassenräume und die Werkstätten in den grauen flachen, einstöckigen Gebäuden, die sich über das Areal der Schule verteilen. Die Wege dazwischen sind begrünt und mit Bäumen gesäumt. Eine Oase der Ruhe, umgeben von mannshohen Mauern. {Weiterlesen im Buch, Seite 152}

Neben den Sprachen erlernen die etwa neunzig Schüler der Kunstschule das Handwerk der tibetischen Malerei und die Herstellung von Skulpturen. Da der Andrang für die Ausbildung so groß ist, hat die Schulleitung eine Probezeit von vier Monaten eingeführt, bevor endgültig über die Aufnahme entschieden wird.

In den Klassenräumen sehen wir den Kindern zu, wie sie konzentriert an ihren handgemalten Rollbildern arbeiten. Diese sogenannten Thangkas sind insbesondere in Tibet und den Grenzregionen der buddhistisch geprägten Nachbarländer fast in jedem Tempel oder Hausaltar zu finden. Die Thangkamalerei ist eine eigene tibetische Kunstrichtung, die genauen althergebrachten Regeln folgt und der Meditationspraxis dient. Mich fasziniert beim Betrachten dieser Meisterwerke die Strahlkraft der Bilder, die durch die speziellen Farben aus verschiedenen gemahlenen Mineralien und zerkleinerten Edelsteinen entsteht. Das größte Thangka mit einer Länge von sechshundertachtzehn und einer Höhe von über zwei Metern, an dem vierhundert Maler vier Jahre arbeiteten, hängt in einem tibetischen Kulturmuseum in der Hauptstadt der benachbarten chinesischen Provinz Qinghai. Allein die Vorbereitungen für dieses Rollbild, auf dem alle Arten des kulturellen und religiösen Lebens der Tibeter dargestellt sind, haben dreiundzwanzig Jahre gedauert.

In einer Kunstschule in Lhasa üben sich die Schüler mit Naturfarben an dem Malen prächtiger Gemälde tibetischer Thangkas mit religiösen Motiven, wie vom Avalokiteshvara, dem Buddha des Mitgefühls (Alamy DGGDXC, C858FA, BHK639).

Vielleicht werden auch die Schüler der Kunstschule in Lhasa später einmal an solch einem tibetischen Kunstwerk mitwirken. Doch jetzt dürfen sie nur Kinder sein, die in der Pause auf uns zustürmen, um sich mit den westlichen Ausländern fotografieren zu lassen oder auf dem Platz vor der Schule Fußball zu spielen.

Für den Rest des Tages gibt es kein festes Programm. Mit einem Mietrad des chinesischen Anbieters Ofo radle ich am Nachmittag durch die Stadt. Die weltweit größte Fahrrad-Sharing-Firma, die über zehn Millionen Leihräder in ihrem Bestand hat, ist nun auch auf dem Dach der Welt angekommen. {Weiterlesen im Buch, Seite 153}

Mein Weg führt mich noch einmal vorbei am Potala-Palast auf dem Hügel Dmarpori. Weiter geht es zum Jokhang-Tempel am Barkhor-Platz, das pulsierende Herz der Altstadt. Kurz vor dem Barkhor muss ich eine Sicherheitskontrolle passieren, bei der mein Rucksack durchleuchtet wird und meine Dokumente überprüft werden. Nachdem alles für ordnungsgemäß befunden wurde, kann ich mich unter die vielen Menschen mischen, die auf ihrem Pilgerweg unterwegs sind oder in einem der hier ansässigen Geschäfte Souvenirs, Edelsteine, Thangkas oder Kleidung kaufen. {Weiterlesen im Buch, Seite 154}

Direkt vor einer Kunstgalerie suche ich mir eine Bank, um das Treiben zu beobachten und diese besondere Atmosphäre in mich aufzunehmen. Neben mir sitzt ein altes Ehepaar und gönnt sich eine Ruhepause. Die Frau ist in eine wunderschöne rote Tracht gekleidet. Eine Farbe, die symbolhaft auch für den Segen der Weisheit und der Erhabenheit steht. Ihr großer Hut mit der breiten Krempe im gleichen Farbton schützt sie vorzüglich vor der Sonne. Wir sehen uns lächelnd an, und ich meine, in ihren Augen das gleiche neugierige Interesse an dem jeweils Fremden und am Leben in einer anderen Welt zu sehen, wie ich es selbst empfinde.

Eine innere Ruhe in Rot als Symbol des Segens der Weisheit und der Erhabenheit breitet sich aus in den Strassen der abendlichen Altstadt von Lhasa.

Vor mir laufen junge und alte Tibeter, Chinesen, Mönche und Touristen vorbei. Mir kommt es vor, als ob ganz Tibet wie in einem Film an mir vorüberzieht, und ich denke an die Eindrücke, die ich hier erst vor wenigen Tagen gesammelt habe. Auch jetzt beobachte ich die rituellen Niederwerfungen. {Weiterlesen im Buch, Seite 155}

Mit der beginnenden Dämmerung verfärbt sich der Himmel über Lhasa in ein prachtvolles Gemälde aus blauen und violetten Farbtönen. Die nahen Berge scheinen fast die vorbeiziehenden Wolkenfahnen zu berühren. Auf dem Barkhor gehen in diesem Moment die großen Laternen an. Sie tauchen den Platz in ein weißgelbes Licht, das die Szenerie noch entrückter wirken lässt. Vor dem Eingang zum Tempel versammeln sich immer mehr Gläubige. Viele von ihnen haben eine Matratze mitgebracht und verharren darauf minutenlang regungslos betend vor einem der größten Heiligtümer ihres Landes. Was wird wohl der Inhalt der Gebete sein, die sie so oft wiederholen? Es ist sind jene Stunden des Tages, in denen die Tibeter hier nahezu unter sich sind. {Weiterlesen im Buch, Seite 155}

Mit dem Einsetzen der Dämmerung sind die im Gebet versunkenen Tibeter an ihrem Heiligtum, dem Jokhang-Tempel, fast unter sich allein.

Die besinnliche Atmosphäre am Abend wird nur durch chinesische Soldaten gestört, die in kleinen Gruppen im Gleichschritt schnell den Barkhor überqueren. An fast jeder Straßenecke nahe dem Tempel sehe ich bewaffnete Sicherheitskräfte und auch einige Panzerfahrzeuge. Lhasas Altstadt ist voll mit Polizeistationen und Überwachungskameras, wie überhaupt die Polizei- und Militärpräsenz in Tibet enorm hoch ist.

Künstliche Adleraugen sehen fast alles und gehören zu dem Programm für ein gläsernes China mit einer angestrebten totalen Überwachung und digitalisierten Menschen. Die neueren Kameras mit eingebauter Gesichtserkennung filmen nicht nur unaufhörlich das Geschehen, sondern registrieren genau, was in jedem Moment passiert und wer wo zu sehen ist {Weiterlesen im Buch, Seite 156}.

Auf dem Barkhor-Platz kehrt zur späten Stunde Ruhe ein, bevor zwei Stunden vor Mitternacht in der ganzen Stadt das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Nur die jungen Tibeter lassen sich noch um diese Zeit mit dem Handy auf die Verlockungen des Internets ein und unterscheiden sich darin in nichts von gleichaltrigen Chinesen. Auf den fast menschenleeren Straßen fahre ich mit meinem Leihfahrrad vorbei an den umherstreunenden Hunden zurück ins Hotel, den Kopf voll mit Eindrücken und Gedanken.

Am nächsten Morgen heißt es Abschied nehmen von Tibet, meiner Reisegruppe und der sympathischen Reiseleiterin Lhamo. Länger bleiben kann ich nicht, da meine Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist. Auf der neunzigminütigen Fahrt zum Flughafen geht es ein letztes Mal vorbei am Potala, der sich unter dem blauen Morgenhimmel und umrahmt von Bergen noch einmal im schönsten Licht zeigt.

Über den Lhasafluss und durch das herrliche Lhasatal fährt der Bus zum Flughafen. Hier herrscht die gewohnte Hektik, nur dass die Sicherheitskontrollen im Vergleich zur Einreise nach Tibet weniger streng ausfallen. Auf dem Rollfeld wartet schon der Airbus 319 von Air China, der mich gemeinsam mit den chinesischen Touristen zurück nach Beijing bringen wird.

Sanft hebt das Flugzeug nach dem Start vom Rollfeld ab und taucht ein in den Himmel über Lhasa. In einem Umkreis von dreißig Kilometern ist der Flughafen von fünf- bis sechstausend Meter hohen Gipfeln umgeben, auf denen kein Schnee liegt. Mit jeder Minute werden die Bergketten beim Betrachten aus dem Fenster kleiner, ehe sie hinter den Wolken verschwinden.

Auf Wiedersehen, Tibet. Ein Satz, der sich leicht dahinsagen lässt und bei dem ein kaum hörbares »Vielleicht« mitschwingt. Tibet ist ein einzigartiges Reiseland. Neben den gigantischen Landschaften und den sagenumwobenen Sehenswürdigkeiten beeindrucken mich die Menschen, die in einem politischen Spannungsfeld einen offen gelebten Buddhismus praktizieren, der wohl jeden Reisenden fasziniert. Der Lamaismus mit seinen heiligen Riten und seiner magischen Tradition ist anders als der weltliche Buddhismus, der in China vielerorts auf gewisse Weise zum Alltag gehört.

Beim Gedanken an meine Rückkehr ins Büro in Beijing ahne ich, dass mich noch länger beschäftigen wird, was ich in dieser Goldenen Woche gesehen und erlebt habe. Der vierstündige Flug zurück in die Hauptstadt ist dafür ein sehr guter Anfang.

Hula-Hula-Tanzeinlagen im Eingangsbereich eines Huawei-Händlers in Lijiang.

Tibet, das Dach der Welt.

Mehr in dem Buch “Go West. Unterwegs im anderen China”

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